Zhao Jie: "Kleiner Phönix"
Eine Kindheit unter Mao
Eine erschütternde
Autobiografie aus einer auch heute noch mit Tabus belegten Zeit
Sie heißt Cui; "Jie", "Schwester", wird sie sich erst später nennen.
1957 in China als erstes Kind zweier der Luftwaffe zugeordneter
Theatermitarbeiter geboren, gelangt Cui schon als Säugling in die Obhut
ihrer Großmutter, denn ihre Eltern haben aufreibende Stellen und keine
geeignete Wohnung, zudem wird ihre Einheit ständig verlegt. So wächst
Cui in sehr bescheidenen Verhältnissen in Peking auf.
Zhao Jie berichtet zunächst davon, wie ihre Eltern zu
Theaterschauspielern wurden, die zur Motivation der Volksbefreiungsarmee
eingesetzt waren. Daher rührte auch der erwähnte Zwang zur Mobilität.
Die Großmutter, rückenkrank und auch mit der Pflege ihres Mannes
betraut, übernimmt klaglos die anstrengende Aufgabe, ihre Enkelin
großzuziehen. Später kommen Cuis Cousin und ihre wesentlich jüngere
Schwester hinzu.
Cui ist noch in der Grundschule, als die Kulturrevolution losbricht.
Jugendliche der Roten Garden schikanieren und foltern Nachbarn der
kleinen Familie, die Schuldirektorin, Mitschüler; es kann jeden treffen,
den man in irgendeiner Weise verdächtigt, oder mit dem Einzelne ein
Hühnchen zu rupfen haben. Auch in der politischen Elite rollen plötzlich
Köpfe. Das feste Gefüge der Volksrepublik schwankt.
Auch Cui stößt zu den Roten Garden, allerdings zu einer Zeit, als deren
Terror bereits zurückgeht und auch der Schulbetrieb wieder aufgenommen
wird. Eine Art Alltag scheint einzukehren. Da treffen ihre Familie
mehrere harte Schicksalsschläge. Cui sieht ihre Zukunft nun nicht mehr
in ihrer heillos zersplitterten Umgebung, sondern sie geht freiwillig
aufs Land, um wie so viele gebildete Jugendliche den Bauern dort zu
helfen, ihre Erträge zu optimieren.
Doch auf den Elan folgt bald die Ernüchterung: Halb verhungerte Bauern
auf unfruchtbarem Land müssen nun auch noch die wenig nützlichen
Jugendlichen aus der Stadt mit versorgen. Cui beginnt erstmals, die
Ideale, die ihr per Hirnwäsche von klein auf eingetrichtert wurden, zu
hinterfragen.
Obwohl China mit seiner neueren
Geschichte mittlerweile in Maßen kritisch umgeht, ist nicht
zuletzt die Zeit der Kulturrevolution noch immer mit etlichen Tabus
belegt. Im deutschsprachigen Raum finden sich auch aus diesem Grund nur
wenige belletristische Veröffentlichungen, die sich mit den Jahrzehnten
unter Mao befassen und den Schwerpunkt auf die Sechziger- und
Siebziger-Jahre legen. Zhao Jies Autobiografie bietet daher eine der
raren Möglichkeiten, diese Zeit ganz unmittelbar mitzuerleben, zunächst
gewissermaßen gerafft und rückwirkend über die Geschichte von Cuis
Großeltern und Eltern
und schließlich durch ihre eigenen
Erfahrungen. Die Autorin lässt dabei ihre Kindheit so klar Revue
passieren, dass der Leser sich selbst in das Mädchen hineinversetzt
fühlt und dessen häufig verstörende Welt erkundet. Wo nötig, bindet die
Autorin Informationen mit ein, die dem Kind seinerzeit nicht zur
Verfügung standen; dies stört den Fluss der Erzählung jedoch nicht und
hilft dem Leser enorm, die Abläufe zu begreifen.
Es ist ein langer Weg, den das ideologisch geformte Kind hin zur
hinterfragenden jungen Frau zurücklegt - übrig bleibt vom Eindruck der
hehren Ideologie schließlich nur ein Aschehaufen.
Hinsichtlich des Inhalts und auch des Stils zeigt sich das Buch als
echte Perle; es berührt tief, bestürzt, klärt jedoch auch auf und dies
direkter und eindringlicher, als ein Sachbuch es vermöchte.
Der Anhang hilft vor allem jenen, die eine Lesepause einlegen müssen,
rasch wieder bei der Orientierung: So gibt es ein Personenverzeichnis
und eine Zeittafel, beides sehr übersichtlich, zudem noch eine Tafel mit
Aussprachehilfen für die Namen. Zwei Blöcke mit Fotos ergänzen den knapp
700 Seiten langen, aber an keiner Stelle langweiligen Text und geben den
Hauptfiguren Gesichter.
Wie gesagt, eine Perle - ein wertvolles Werk, das politisch,
geschichtlich, sozial und kulturell Interessierte begeistern wird, aber
auch jeden Anderen, der einen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus
riskieren möchte.
(Regina Károlyi; 05/2013)
Zhao Jie: "Kleiner Phönix. Eine Kindheit
unter Mao"
Blessing, 2013. 720 Seiten.
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