Marina Mander: "Meine erste Lüge"
Luca ist ein Knabe von
neun Jahren, als ihm jene Geschichte widerfährt, welche ihn die in
Mailand lebende Schriftstellerin Marina Mander in ihrem ersten Roman
erzählen lässt.
Schon sehr lange ohne Vater aufwachsend, lebt Luca mit seiner Mutter
zusammen. Es ist ein für Luca schwieriges Zusammenleben, weil sich
seine Mutter in den letzten Jahren stark verändert hat. Immer wieder hat
sie verschiedene Männer mit nach Hause gebracht und mit ihnen im
Schlafzimmer seltsame Geräusche produziert. Jedes Mal hofft Luca, einer
davon könnte vielleicht sein neuer Papa werden.
Doch seit seine Mutter ihren Arbeitsplatz verloren hat und auch nur noch
selten mit ihrer besten Freundin Guilia ausgeht, kommen keine Männer
mehr in die Wohnung. Lucas Mutter liegt viel im Bett, und er beobachtet
auch, dass sie regelmäßig Tabletten nimmt. Er weiß nicht, was eine
Depression
ist, aber er spürt ihre Folgen jeden Tag. Er kommt in der Schule
einigermaßen klar, nur wenn man ihn als Halbwaisen bezeichnet, ärgert er
sich. Er weiß ganz genau, was mit Waisenkindern geschieht, und hat große
Angst davor, ein ähnliches Schicksal zu erleiden.
Als jedoch seine Mutter eines Tages nicht mehr aufsteht und er nach
einigen Stunden realisiert, dass sie tot ist, ist für Luca vollkommen
klar: Niemand darf erfahren, dass seine Mutter gestorben ist.
Marina Mander belässt es bei zarten Andeutungen, aber es ist relativ
klar, dass Lucas Mama zu viele von ihren Tabletten eingenommen hat.
Zusammen mit dem Kater Blu versucht Luca über eine ganze Woche lang,
alles alleine zu bewältigen. Er geht in die Schule, wimmelt Fragen nach
seiner Mutter und die Versuche von Klassenkameraden, ihn zu besuchen,
geschickt ab. Obwohl ihm seine Mutter in den letzten Monaten nur wenig
Zuwendung und Hilfe geben konnte, hält er sich über viele Tage an der
Erinnerung vieler ihrer Worte fest.
Irgendwann ist der Gestank aus dem Schlafzimmer so stark, dass er nicht
mehr hineingehen kann.
Er erinnert sich daran, dass ihm seine Mama erzählt hat, er sei ein
Siebenmonatskind gewesen und habe zwei Monate in einem Inkubator
gelegen.
"Vielleicht bin ich jetzt auch wieder in so was Ähnliches geraten,
irgendeine Höllenmaschine, die mir schreckliche Albträume macht, und
ich bin noch zu klein, um allein wieder da rauszukommen und
davonzulaufen."
Irgendwann ist das Geld verbraucht, und Luca weiß nicht mehr, wie er
sich und die Katze
ernähren soll. Und er bleibt in seinen Erinnerungen weiter in der
Gegenwart, realisiert nicht völlig, dass seine Mutter tot ist: "Mama
sagt immer, dass man keine Lügen erzählen soll. Aber ohne Lügen wäre
ich schon im Waisenhaus."
Gespannt folgt man dieser ebenso wunderbaren wie bewegenden Geschichte
und wartet gebannt auf ein erlösendes Ende.
Marina Mander zeigt sich in ihrem Debüt als begabte Erzählerin, der es
gelingt, sich in die Seelenwelt eines neunjährigen Knaben zu versetzen
und im Hintergrund vom verzweifelten Schicksal einer einsamen und
kranken Frau und Mutter
zu erzählen.
(Winfried Stanzick; 04/2013)
Marina Mander:
"Meine erste Lüge"
Aus dem
Italienischen von Ulrich Hartmann.
Piper, 2013. 192 Seiten.
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