Oliver Hilmes: "Ludwig II."

Der unzeitgemäße König


Dekonstruktion einer Legende

Im großen Wagnerjahr 2013 kommt man an Ludwig II. kaum vorbei, denn es gilt: Ohne Ludwig kein Festspielhaus Bayreuth - und vielleicht auch kein Wagner, wie wir ihn heute kennen. Ludwig war aber nebenbei auch noch König von Bayern und Steigbügelhalter bei der Kaiserkrönung, wenngleich auch nur wider Willen. König wäre er schon gerne gewesen, aber so einer, wie sie der Absolutismus am Bourbonenhof hervorbrachte, freilich ohne deren unrühmliches Ende. Ja, und Schlösser baute er: Linderhof, Herrenchiemsee und Neuschwanstein natürlich. "Ludwig II. ist die cashcow der bayrischen Tourismusindustrie", erfahren wir bereits im Vorwort. Nähert man sich Ludwig II., ist man also umringt von Klischees.

Das ist allemal ein guter Grund, eine aktuelle Biografie zur Hand zu nehmen, insbesondere, wenn dem Autor erstmalig vergönnt war, bislang verschlossene Quellen auszuwerten. Oliver Hilmes stand als erstem Historiker das "Geheime Hausarchiv" der Wittelsbacher zur Verfügung, das zwar im Bayerischen Hauptstaatsarchiv untergebracht ist, aber von einer Wittelsbacher Stiftung verwaltet wird. Daneben erschloss er die Korrespondenz des preußischen und des österreichisch-ungarischen Gesandten am bayrischen Hof, die neben Klatsch und Tratsch doch einige biografisch interessante Details zutage förderte.

Der Autor erhebt den Anspruch, den "Märchenkönig" als Herrscher und historische Gestalt ernstzunehmen. Das darf man aber auch von einer modernen Biografie verlangen. Doch es ist ein schwieriges Unterfangen, Ludwig II. ernstzunehmen, da er seine primäre Rolle als Chefpolitiker des Königreichs Bayern nicht ernstnahm. Seine Welt war die der Kunst!

Im Alter von fünfzehn Jahren war er erstmalig Wagners "Lohengrin" ausgesetzt. Da lebte in seinem Kopf bereits der Schwanenritter der Hohenschwangauer Wandzeichnungen, mit denen er aufgewachsen war. Ein knappes Jahr später sah er den "Tannhäuser", der, einem Augenzeugen zufolge, den jungen Prinzen in Zuckungen brachte. Es war wohl weniger die Musik, die ihn entrückte, als vielmehr die "mythischen Figuren, die Ludwig an Wagners Sagenwelt faszinierten". Als er dreizehn Jahre später König wurde, ergriff Ludwig kulturell, anders als im politischen Tagesgeschäft, recht schnell die Initiative und schickte fünf Wochen nach der Thronbesteigung seinen Kabinettssekretär los, Richard Wagner nach München zu bringen. Für Wagner Rettung in letzter finanzieller Not, für Ludwig die Erfüllung seiner Träume, für Bayern ein teurer Spaß. Darf man den "Ring" und die Spätwerke dagegenrechnen? Bayreuth? Ludwigs Kulturförderung kann man durchaus in der Tradition seines Großvaters und seinen Vaters betrachten, nur förderten diese Architektur und Wissenschaft, doch Ludwig seinen Wagner. Erste brachten das Land voran, und Letzterer wollte die Menschen durch Kunst veredeln.

Politisch war Ludwig rundum überfordert und ein bayrischer Bismarck nicht in Sicht. Sogar abdanken wollte er, als es zum Bündnisfall im Vorfeld des Deutschen Kriegs von 1866 kam, und sich nur noch um Wagner kümmern, wie er diesem telegrafierte. Doch "Wagner zeigte sich schockiert [...] Ludwig war für ihn nur als König von Interesse." Als Ludwig lediglich von einem Reitknecht begleitet inmitten dieser diplomatischen Turbulenzen per Pferd, Kutsche und Bahn zu Wagners Geburtstag ins Schweizer Tribschen reiste, offenbarte sich das Drama vollends.

Dass Bayern trotz seines Königs noch einigermaßen heil durch die gesellschaftlichen und politischen Wirrnisse der Zeit navigierte, ist den beherzten bayrischen Ministern zu danken. Dass Ludwig am Ende aus dem Verkehr gezogen werden musste, war der staatspolitischen Vernunft geschuldet.

Es füllt Schränke, was an Büchern über Ludwig II. veröffentlicht wurde. Zwei Themen tauchen immer wieder auf: Der bedauernswerte und etwas aus der Zeit gefallene Monarch sowie der Patient Ludwig II. Selbst namhafte Psychologen versteigen sich immer wieder und prüfen Ludwigs Geisteszustand. Ex post und nach Aktenlage, wobei sie sich regelmäßig darüber beschweren, dass Ludwig nur nach Aktenlage für unmündig erklärt wurde. Der Autor steigt in den Ring und kommt zu dem Schluss, dass Ludwig an einer schizotypen Persönlichkeitsstörung litt. Hierzu schreibt er, dass dieses Thema notwendig behandelt werden muss, denn sonst würde er es sich "als Biograph zu einfach machen, bezöge ich in der Frage nach Ludwigs geistiger Gesundheit nicht Stellung". Das eröffnet natürlich das weite Feld der psychiatrischen Spekulation und ist im Übrigen keine originäre Aufgabe eines Biografen.

Hilmes schildert im Kapitel Gegenwelten Ludwigs Bautätigkeiten. Er nennt Ludwig einen "Künstler mit Kunstfertigkeit". "Er erkannte", so heißt es, "im Absolutismus eine bessere Gegenwelt, die er dann im Theater und in seinen Schlossbauten zum Leben erwecken wollte. Beide Bereiche - die Bühne und die Baukunst - waren für Ludwig nicht voneinander zu trennen. [...] Dabei sind seine Schlösser keine Kopien von irgendetwas, wie immer wieder behauptet wird, sondern originäre Neuschöpfungen. [...] In dem Maße, in dem der König die politische Gegenwart als Kränkung empfand, schuf er sich eine seine Gegenwelt, die er zum Kunstwerk stilisierte. Dank seiner Kreativität und visionären Kraft entstanden so Werke, die der damaligen Zeit weit voraus waren. Aber anders als etwa Richard Wagner, der bei seiner 'Festspiel-Idee' möglichst breite Volksschichten ansprechen wollte, kannte Ludwig II. nur einen Empfänger: sich selbst." Man stutzt zwangsläufig: Ludwig, ein Künstler. Doch der Autor untermauert seine steile These, denn Ludwig hat wohl seine Bauten bis in die Details hinein festgelegt und seinen Zeichnern diktiert, was wiederum Grundlage für die Architekten wurde. Zumindest muss man den Kunstbegriff in Zweifel ziehen, wenn man in Schloss Linderhof die Venusgrotte oder die Hundinghütte mit einbezieht, denn da scheint die Grenze zum Kitsch deutlich überschritten zu sein. Zu einem Kitsch, der in keiner Relation zu irgendetwas in diesem Land stand. Im Übrigen kann Kunst nur reifen, wenn sie nicht auf unvertretbaren Kosten der Gesellschaft und der Menschlichkeit beruht. Zieht man diese Grenze nicht, werden auch Stockhausens skandalöse Kunstdefinitionen legitim. Auch die aktuelle Limburger Baukunst verliert angesichts ihrer Begleitumstände völlig zu Recht ihren hehren Kunstanspruch.

Dort, wo der Autor Ludwig als Handelnden im politischen Gefüge seiner Zeit im Blick hat, haben wir es mit einem bedeutenden Text der aktuellen Historiografie zu tun. Sexuelle Vorlieben oder vermeintliche sexuelle Störungen, teils auch spekulativer Art, sind hierfür ohne Belang und können durchaus in den Archiven verbleiben. Ob Ludwig etwas mit einem Reitknecht hatte, geht uns schlicht und ergreifend nichts an.

Zum Schluss möge noch einmal der Autor zu Wort kommen: "Wäre er an jenem 13. Juni 1886 eines - salopp gesprochen - 'normalen' Todes gestorben, würde man wohl vom zu frühen Ableben eines phantasiebegabten, faszinierenden und exzentrischen, aber im Grund gescheiterten Monarchen sprechen. Erst der Tod im See war es, der aus dem Drama eine echte Tragödie machte. Bernhard von Guddens unseriöses Gutachten, die stümperhafte Durchführung der Entmachtung, das peinliche Scheitern der Staatskommission, die Verbringung nach Berg und nicht zuletzt Guddens verantwortungsloses Verhalten am Abend des Pfingstsonntags - das bildete den Nährboden, auf dem die Gerüchte bis heute prächtig und überaus farbig blühen können."

(Klaus Prinz; 11/2013)


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Siedler, 2013.  447 Seiten. Mit Abbildungen.
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