Rosa Liksom: "Abteil Nr. 6"
Roman über eine
außergewöhnliche Reise
Die beiden Reisenden, die im Abteil Nr. 6 mit der Transsibirischen
Eisenbahn nach Ulan Bator in der Mongolei aufbrechen, könnten
unterschiedlicher nicht sein: eine junge finnische Frau, die in Moskau
studiert, und ein grobschlächtiger, primitiv anmutender Russe in
mittleren Jahren auf dem Weg zur Arbeit in Ulan Bator.
Tagelang sind die beiden zusammengesperrt. Sie kann ihm kaum jemals auch
nur für kurze Zeit ausweichen, er ist meist betrunken und wird dann
bisweilen zudringlich, doch sie lernt rasch, sich seiner zu erwehren.
Nicht abwehren kann sie die Geschichten, die er erzählt - Geschichten,
die diesen nicht untypischen, einfachen russischen Mann und Säufer mit
erstaunlich vielen Facetten versehen, die ihn manchmal geradezu
liebenswert erscheinen lassen, manchmal abstoßend und ansonsten irgendwo
im weiten Bereich dazwischen.
Stadt um Stadt erreicht der Zug und lässt sie wieder hinter sich, mit
kürzeren und längeren Aufenthalten, während derer das ungleiche Paar aus
Abteil Nr. 6 bisweilen gemeinsam unterwegs ist oder die beiden Reisenden
sich voneinander erholen.
In Ulan Bator trennen sich ihre Wege, kreuzen sich nochmals in
erstaunlicher Weise und entfernen sich dann endgültig voneinander.
Noch existiert die Sowjetunion, und so sind die Reisenden, damit auch
die junge Finnin, der Willkür des Zugpersonals unterworfen, das sich
zwar über den betrunken pöbelnden Mann aufregt, jedoch seiner
unglücklichen Abteilgenossin keinen anderen Platz zur Verfügung stellt,
obwohl sie zunächst verzweifelt versucht, ihn loszuwerden. Mit der Zeit
gelingt es den beiden, eine empfindliche Balance aufzubauen, so etwas
wie Respekt - obwohl für eine junge Frau mit akademischer Bildung ein
derber russischer Arbeiter offensichtlich nicht weniger schwer zu
respektieren ist als für ihn eine Frau ganz allgemein. Dies geht schon
aus den abwertenden Bezeichnungen für Frauen hervor, die er ganz
selbstverständlich verwendet.
Mit der Zeit entwickelt sich aber fast etwas wie gegenseitige Fürsorge,
wenn nicht eine eigenartige Freundschaft. Beide Personen sind auf ihre
Weise einsam; den Mann erwarten Monate auf dem Bau ohne seine Frau und
seinen Sohn, die er auf seine Weise wohl liebt und braucht; die junge
Frau versucht, Abstand von einer unglücklichen Dreiecksbeziehung zu
gewinnen und jene Mongoleireise
zu machen, die sie eigentlich mit ihrem Freund zusammen unternehmen
wollte.
Die Schicksalsgemeinschaft im Abteil ermöglicht es beiden, ihr
jeweiliges Unglück etwas aufzuarbeiten und Zugang zu Neuem zu finden.
Symbolisch dafür steht der Umstand, dass der Russe der Finnin zum
Abschied einen Gegenstand schenkt, der für ihn eine tiefe Bedeutung
besitzt.
Verfasst ist der Roman aus einer eigenartigen Distanz zu den Figuren
heraus, die lediglich als "der Mann" und "die junge Frau"
bezeichnet werden und dadurch trotz ihrer sich allmählich abzeichnenden
individuellen Geschichte, ihrer eigenwilligen Charaktere letztlich
austauschbar erscheinen. In dieser Anonymität wirken sie verletzlich.
"Abteil Nr. 6" entführt in einen erstaunlichen Mikrokosmos, der sich
zunehmend weitet. Erst nach und nach erspürt der Leser, dass sich unter
der scheinbar kühlen Darstellung sehr viel Warmherzigkeit und Empathie
verbergen und kann sich dem Zauber der Erzählung nicht mehr entziehen.
Ein fesselnder Roman um Lebensentwürfe, Lebenskrisen, Gefühle und Freundschaft!
(Regina Károlyi; 05/2013)
Rosa Liksom: "Abteil Nr. 6"
(Originaltitel "Hytti NRO. 6")
Aus dem Finnischen von Stefan Moster.
DVA, 2013. 217 Seiten.
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Rosa Liksom, 1958 in Nordfinnland geboren, lebt heute in Helsinki und hat lange Zeit im Ausland verbracht (u.A. in der Sowjetunion, Dänemark und den USA). Sie studierte Anthropologie, arbeitete in den unterschiedlichsten Branchen und debütierte 1985 mit Kurzgeschichten, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Ihr erster Roman ist 1999 unter dem Titel "Crazeland" auch auf Deutsch erschienen. "Abteil Nr. 6" ist ihr dritter Roman, er wurde 2011 mit dem wichtigsten finnischen Literaturpreis ausgezeichnet, dem "Finlandia-Preis", und ist mit 100.000 verkauften Exemplaren in ihrem Heimatland ein großer Verkaufserfolg. Neben dem literarischen Schreiben verfolgt Rosa Liksom eine künstlerische Karriere.