Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle"

Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt


Bewegende Schicksale, historische Hintergründe und aufschlussreiche Daten

Die tunesische Revolution um Arbeitslosigkeit, fehlende Freiheiten und andere Missstände hat in vielen anderen Ländern Nordafrikas für Folgeaufstände gesorgt - so auch in Ägypten, woher der Vater der Autorin stammt. Jenes Ägypten, das zunächst Morsi gewählt und dann abgesetzt hat und in dem das Versammlungsrecht extrem eingeschränkt worden ist. Dies sind neuere Entwicklungen, die das vorliegende Buch noch nicht mit berücksichtigen konnte.

Die Autorin, Tochter eines Ägypters und einer Waliserin, ist lange Zeit außerhalb von muslimischen Ländern aufgewachsen und hat im Laufe ihres Lebens verschiedene Phasen der Frömmigkeit und des Interesses für ihre Herkunft durchlaufen. Dabei ist ihr aufgefallen, dass in muslimischen Ländern in Bezug auf sexuelle Freiheiten Einiges anders zu laufen scheint, als in der westlichen Welt. Fünf Jahre bevor dieses Buch in Druck gegangen ist, begann sie darum eine Reise durch einen Teil der muslimischen Welt Nordafrikas und des Nahen Ostens, in deren Verlauf sie den möglichen Realitäten hinter der Sexualität der Muslime nachspürte. Sie führte dabei zahlreiche Interviews mit Männern, Frauen, Verheirateten und Unverheirateten, Jungfrauen und solchen, die es gerne wieder wären, alleinerziehenden Müttern, Scheichs, Imamen, Ärzten, Hebammen, Beschneiderinnen, homosexuellen Frauen und Männern, Politikern, Transsexuellen sowie männlichen und weiblichen Prostituierten. Sie forschte den Wegen der Wanderarbeiter nach Saudi-Arabien nach und den veränderten sexuellen Gewohnheiten, die sie "von Montage" mitgebracht haben. Und sie betrachtet, wie sehr moderne Kommunikationsmittel sowohl Befreier, als auch elektronische Fußfesseln für junge Menschen werden können, die die Liebe suchen.

"Sex und die Zitadelle" versteht sich als Versuch einer Datensammlung und Analyse zu einem Thema, zu dem die meisten Regierungen gar nicht unbedingt so genaue Daten sammeln möchten, um nicht aus religiös-sozialer Sicht unter Handlungsdruck zu kommen. Der Titel ist dabei bewusst eine Anspielung auf etwas, das der "westliche Mensch" zu kennen glaubt - auch aufgrund des Namens einer ähnlich klingenden Fernsehserie, das aber in der vielgestalten und vielschichtigen arabischen Welt nur eingeschränkt Gültigkeit hat. Denn die Zitadelle von Kairo, die vor etwa einem Jahrtausend von Salah al-Din erbaut worden ist , stammt aus einer Zeit, in welcher der muslimisch-arabische Raum für die meisten Europäer in Bezug auf Sexualität und Erotik Sündenpfuhl und Honigtopf zugleich war, und wo unter Anderem Autoren wie Gustave Flaubert ganz neue erotische Spielarten kennenlernten. Gerade diesem historischen Wandel widmet sich die Autorin im ersten Kapitel des Buchs und bringt dabei neben den bekannten Märchen aus 1001 Nacht noch andere erotisch explizite Literatur aus dem arabischen Raum zurück in die Erinnerung.

In der folgenden Kapiteln geht es dann um Ehefrauen - sinnig übertitelt mit "Desperate Housewives" (Titel einer us-amerikanischen Fernsehserie) -, das Singleleben in der arabischen Welt, das wirklich kein Zuckerschlecken ist, den Stand der sexuellen Aufklärung, Prostitution und die verschiedenen Spielarten der Homoerotik sowie der Trans- und anderer Sexualität. Im Zuge der Lektüre erfährt man viel über die tatsächlichen Gesetze zu diesen Themen und auch über die Auslegungen aus dem Koran und den Begleitschriften, die sich mit diesen Bereichen beschäftigen. Hier findet sich durchaus Überraschendes.

All diese Betrachtungen zeigen - wie auch einige der Interviewpartner der Autorin äußern -, dass ein großes Potenzial zur sexuellen Befreiung existiert, die allerdings aus historischen und soziologischen Gründen nicht so verlaufen muss wie in der westlichen Welt. Eine Überlegung, welche die Menschen im Großen und Ganzen ebenso auch auf ihre politischen Revolutionsbewegungen anwenden sowie auf mögliche kommende soziale Veränderungen. Dabei wird Sex dann schnell zu einem Symbol für andere Freiheiten, die es nach Ansicht vieler primär zu erringen gilt.

Die Datenlage ist schwierig für viele der angesprochenen Themen, aber die studierte Immunologin, die lange für die "UN Global Commission on HIV und the Law" sowie als Journalistin u.A. für "Al-Dschasira" und den "Economist" gearbeitet hat, weist immer wieder auf diese Unsicherheiten hin und zeichnet gerade dadurch ein sehr vielschichtiges und anscheinend ausgeglichenes Bild der Situation zur Drucklegung des Buchs. Das Ergebnis ist mit Bezug auf den arabischen Raum ziemlich erhellend und im Gegenzug für die westlichen Kampagnen im LGBT-Bereich auch mit einigen überaus bedenkenswerten Gedanken zur Identität versehen.

 

"Es dauerte mehr als tausend Tage, diese Geschichten zusammenzutragen, und wie in "Tausendundeine Nacht" sind sie in oftmals überraschender Weise miteinander verwoben. In Kapitel 1 helfen sie uns zu verstehen, wie sich Einstellungen zur Sexualität in Ost und West im Lauf der Zeit verändert haben; in Kapitel 2 verdeutlichen sie die Schwierigkeiten der Ehe, innerhalb und außerhalb des Schlafzimmers. In Kapitel 3 zeigen sie uns das sexuelle Minenfeld der Jugend, und in Kapitel 4 zeigen sie Möglichkeiten auf, wie man es mit Sexualerziehung, Verhütung und Abtreibung sicher durchqueren kann und was sich tun lässt, wenn man doch auf eine Mine tritt und als unverheiratete Frau Mutter wird. Kapitel 5 untersucht die vielen Nuancen der Sexarbeit in der Region und ihre mögliche zukünftige Entwicklung; in Kapitel 6 betrachten wir diejenigen, die die heterosexuelle Norm sprengen, und die Veränderungen, die sie sich wünschen.
Schließlich ordnet Kapitel 7 den gegenwärtigen Zustand in eine umfassendere Perspektive ein und wendet sich der Frage zu, wie in den kommenden Jahrzehnten eine ausgewogenere und bedürfnisgerechtere Sexualkultur entstehen könnte. Trotz all der Nöte, die diese Geschichten verdeutlichen, ist dies nicht ein weiteres Buch darüber, was in der arabischen Region falsch läuft. Es zeigt vielmehr das, was gelingt: wie Menschen in den einzelnen Ländern ihre Probleme lösen, und zwar in einer Weise, die sich oftmals von den Antworten in anderen Regionen der Welt unterscheidet. Dies ist weder ein akademischer Schmöker noch ein Panoptikum arabischer Exotika. Es ist letztlich ein Album mit Schnappschüssen aus der ganzen Region, aus dem Blickwinkel einer Person, die versucht, die Region besser zu verstehen, um sich selbst besser zu verstehen.
Diejenigen, die nach einer Enzyklopädie oder einer Peepshow suchen, sollten sich anderweitig umtun."
(Aus dem Buch)

Fazit:
Nicht unbedingt durchgehend einfach zu lesen, manchmal erschreckend, manchmal auch amüsant, aber auf jeden Fall lesenswert - auch, um unsere westliche Sicht auf einige Aspekte der arabischen Welt zu hinterfragen.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 11/2013)


Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle.
Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt"

Übersetzer: Thorsten Schmidt.
Hanser Berlin, 2013. 415 Seiten.
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