Michel Laub: "Tagebuch eines Sturzes"


Lebensrettende Spurensuche in drei Männerbiografien

Es ist eine ernstzunehmende Krise, in welcher der namenlose Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, fast durch den Alkohol umgekommen wäre, die ihn  zwingt, sich mit den Brüchen sowie den Stürzen seines Lebens auseinanderzusetzen. Dabei kommt er seiner bislang großteils verschwiegenen und verdrängten Familiengeschichte auf die Spur. Er findet ein Tagebuch seines Großvaters, der, nachdem er das KZ Auschwitz überlebt hatte, nach Brasilien auswanderte, um dort ein neues Leben zu beginnen.

Brasilien ist bekanntlich das Gastland der "Frankfurter Buchmesse 2013". Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund wartet gerade der Bücherherbst dieses Jahres mit auffallend vielen Titeln aus dem südamerikanischen Land auf.
Der in seiner Heimat überaus bekannte und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Autor Michel Laub wurde 1973 als Nachfahre jüdischer Einwanderer in Porto Alegre geboren. Bei dem schmalen Band "Tagebuch eines Sturzes" handelt es sich um seinen fünften, autobiografisch gefärbten Roman.

Immer wieder zitiert Michel Laub Stellen aus dem Tagebuch des Großvaters, der Suizid begangen hat, und fügt sie in sein eigenes ein, dessen Niederschrift ihm letztlich das Leben und auch seine brüchige dritte Ehe rettet. Ihm wird langsam klar, warum der Großvater nie vom Konzentrationslager gesprochen hat, und er erinnert sich an seine eigene Kindheit in einer jüdischen Schule, wo er an einem schrecklichen Sturz beteiligt war, den ein nichtjüdischer Junge erlitt.

Als sein eigener Vater an Alzheimer erkrankt, ist auch dies ihm ein Symbol für das Nichterinnernkönnen in seiner Familie, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Familiengeschichte zieht.

Michel Laub macht sich mitten in der größten Krise seines Lebens, als ihm alles abhanden zu kommen scheint, was ihm je wichtig war, daran, die Auswirkungen des KZ-Traumas seines Großvaters auf die beiden nächsten Generationen zu bearbeiten, indem er sich selbst an wichtige Einschnitte in seinem Leben erinnert. Der erwähnte Sturz des nichtjüdischen Jungen und ein Streit mit seinem Vater, als Michel die jüdische Schule verlassen will, sind neben der kritischen  Lektüre der Aufzeichnungen seines Großvaters und später auch jenen des Vaters die Themen, um die er immer wieder kreist.

 

"37.
Ich weiß nicht, ob ich nur mitmachte, weil ich mich an meinen Mitschülern orientierte, João hochzuwerfen, ein Mal, zwei Mal, ihn jedes Mal wieder aufzufangen, bis er beim dreizehnten Mal noch einmal hochgeschleudert wurde und ich schon die Arme zurückzog und einen Schritt zurücktrat und sah, wie João in der Luft innehielt und zu fallen begann, oder ob es umgekehrt war: ob eigentlich, wegen dieser Idee von vor ein paar Tagen, wegen etwas, das ich gesagt hatte oder getan, wann und vor wem auch immer, Umständen, Ausreden, die unwichtig sind, sie sich in Wahrheit an mir orientierten.

38.
Denn klar ist, dass auch ich diese Dinge gesagt hatte, die dazu führten, dass er mit dem Genick auf dem Boden aufschlug, und dann sah ich, dass die anderen wegrannten, zehn Schritte zum Flur und zum Eingang und auf die Straße, und plötzlich biegst du hastig um die Ecke, ohne zurückzuschauen, und kein Gedanke daran, dass ich nur den Arm hätte ausstrecken, den Aufprall nur hätte abfedern müssen, und João wäre aufgestanden, und ich hätte nie erfahren, was das Resultat dessen war, wie er sich die ganze Zeit über verhalten hatte, um so zu enden, die Schule, die Pausen, die Treppen und der Schulhof und das Mäuerchen, auf dem João sein Pausenbrot aß, das weggeworfene Pausenbrot, und João, der im Sand eingebuddelt wurde, und wie ich mich von den anderen mitreißen lasse, im Chor diese Verse mitsinge, alle zusammen, zugleich, dieses Lied, das du singst, weil es das Einzige ist, was du kannst mit deinen dreizehn Jahren: Sand fressen, Sand fressen, Hurensohn, Goi."

(Aus dem Roman)

Am Ende seines schmerzhaften Erinnerungsprozesses ist er gewappnet und bereit für ein neues Leben, auch für jenes, das gerade im Bauch seiner Frau heranwächst.

(W. Stanzick, red; 09/2013)


Michel Laub: "Tagebuch eines Sturzes"
(Originaltitel "Diário da queda")
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
Klett-Cotta, 2013. 176 Seiten.
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