Alfred Kubin: "Die andere Seite"

Ein fantastischer Roman


Auch schon über 100 Jahre alt ist mittlerweilen Kubins Klassiker aus dem Jahre 1908, und dem bilderreichen, vieldeutigen und wohl auch profetischen Roman sollte in unserer kaum weniger morbiden und untergangssüchtigen Zeit zahlreiche Leserschaft gewiss sein. Nicht nur dem Inhalt des Buches, schon seiner Entstehung haftet etwas Mysteriöses an: in nur 12 Wochen schrieb sich der Zeichner und Illustrator Alfred Kubin damit eine Schaffenskrise vom Leibe und therapierte sich während der Arbeit an dem Werk quasi selbst - wenn man von dem kurzen Epilog des Ich-Erzählers ein wenig rückschließen darf, hatte Kubin nach diesem Schreibanfall, den permanenten Visionen und dem wochenlangen Waten in Untergangsszenarien wieder Vertrauen in sich und den Wert seiner Existenz gefunden.

Sämtliche Ereignisse werden rückblickend erzählt, von Anfang an haften Scheitern und Überleben gleichermaßen an dem Bericht. Dieser beginnt mit der Einladung eines ehemaligen Schulfreunds namens "Patera" (der Gleichaltrigkeit zum Trotz steckt in dem Namen die indoeuropäische Wurzel für "Vater") an den Erzähler, gemeinsam mit seiner Frau in das Traumreich, einen von Patera in Zentralasien errichteten und mehr oder weniger nur aus der Hauptstadt nebst Hinterland und ein paar Dörfern bestehenden Kleinstaat, zu ziehen, was die beiden, die ohnehin Münchens müde sind und eine Indienreise vorgehabt hätten, annehmen. Auch die Faszination, die Patera schon zu Schulzeiten auf den Erzähler ausgeübt hat, ein Kompliment an den (ebenfalls hauptberuflichen) Zeichner und erste Berichte über die neue Welt (fortschrittsfeindlich, gemütlich, viele ehemalige Sanatorienbesucher etc.) werden das ihre zu der gewagten Entscheidung beigetragen haben.

Im Mittelteil des Buches werden nun Perle, die Hauptstadt des Reiches, und seine Einwohner ausführlich geschildert, die vom Schriftsteller dabei geschaffene Atmosfäre einer andersartigen, wenn auch ähnlichen Welt überzeugt und zieht den Leser in ihren Bann, umso beeindruckender, als dies in einer geradlinigen, schnörkellosen Sprache erfolgt.
Kurz zusammengefasst sei hier erwähnt, dass Perle unter einer stetigen, keinen Sonnenstrahl durchlassenden Nebeldecke liegt, des Nachts brennt nur schwache Straßenbeleuchtung, die Gebäude sind allesamt, der Reichtum Pateras machte solches möglich, nicht etwa aus Europa kopiert, sondern eins zu eins nach Perle versetzt worden, ausgewählt ihrer Ausstrahlung oder ihrer besonderen Geschichte wegen. Die Einwohner der aus 20.000 bis 25.000 Einwohnern bestehenden Stadt stammen überwiegend aus deutschsprachigen Landen (es gibt aber beispielsweise auch das anrüchige "Franzosenviertel"), die Meisten sind kinderlos (im Traumreich werden überhaupt kaum Kinder geboren). Außerdem tragen die Traumstädter durchwegs Kleidung nach längst vergangenen Moden, allzu zeitgenössisch gekleidete Neuankömmlinge suchen ob der scheelen Blicke der Alteingesessenen rasch nach passendem Ersatz, und es sind überwiegend schräge Vögel, meist mit irgendeiner kleinen persönlichen Leidenschaft, die es an diesen seltsamen Flecken verschlagen hat bzw die Patera wert fand, zum Leben in seinen Staat einzuladen. Im übrigen gehen die Bewohner ihrer Arbeit oder auch keiner Arbeit nach wie ehemals und anderswo, nur eben etwas mehr ihren inneren Antrieben nach und daher traumwandlerischer, begünstigt noch durch den Umstand, dass dem in Umlauf befindlichen Geld etwas recht Oberflächliches, Symbolhaftes eignet. Wer etwa glaubt, besonders nach Geld streben zu müssen (Ärmere und Reichere sind auch im Traumreich sozusagen naturgegeben), dem zerfließt es schnell, während umgekehrt immer irgendwie für einen gesorgt wird und sich überhaupt alles auf geheimnisvolle Weise auszugleichen scheint.
Ursache dieser Art von Leben und ständiger Schatten der Traumstädter ist natürlich Patera, der unumschränkte Herrscher dieser von ihm aufgebauten Welt. Nie zeigt er sich in der Öffentlichkeit, unbemerkt und im Stillen, dennoch als allgegenwärtige Präsenz von Allen fühlbar, lenkt er das Treiben der Stadt, greift unmerklich in das Leben ihrer Bewohner, beherrscht sie mit starker Hand und bietet ihnen zugleich die Möglichkeit, ein Leben nach ihren Vorstellungen zu führen. An Patera wird von der Kritik üblicherweise das Negative hervorgehoben, eigentlich handelt es sich jedoch um eine sehr ambivalente Figur, die ebenso Züge von einem Marionettenspieler und Diktator wie von einem Kulturschöpfer und väterlichen Monarchen besitzt.
Besonders die Ahnung von der Überlebtheit der europäischen Monarchien alten Stils hat neben der Auseinandersetzung mit der Welt des Traums offensichtlich einiges zum Entwurf des Traumstaatmotivs beigetragen. Dass nun im letzten Romanteil seine Zerstörung und Ablösung durch "den Amerikaner" erfolgt, gibt einem historischen Interpretationsansatz zusätzlich Nahrung. Der Erzähler selbst hält allerdings nicht viel von Politik, weder bei Patera, noch bei dem Amerikaner findet er eine befriedigende Lebenshilfe und Alternative zu der Welt, die er verlassen hat, fündig wird er da am ehesten noch bei den in einer Vorstadt Perles lebenden Ureinwohnern des Landes, großen, blauäugigen Menschen, die in ihrer inneren Gelassenheit und Achtsamkeit gleichwohl eine sehr asiatische Weisheit zu verkörpern scheinen.

Der letzte Teil des Buches handelt vom Untergang des Traumreiches. Hercules Bell, "der Amerikaner" genannt, steinreich, energisch, republikanisch, skrupellos und von dem Verlangen nach dem Sturz seines Antipoden Patera beseelt, betritt die Bühne und sägt fortan verbissen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln am Stuhl des alten Herrschers. Die Veränderung liegt freilich auch schon in der Luft als eine Art Krankheit, die von der Materie Besitz ergreift und diese schneller altern, rosten, verwittern, zerbröseln etc lässt. Damit nicht genug, strömen immer mehr erst große, dann kleine Tiere nach Perle und machen die Stadt immer unsicherer, die Traumstädter bleiben von dem ganzen Treiben natürlich nicht unbeeinflusst, ungute Eigenschaften erhalten Nahrung, unschöne Szenen mehren sich, dann Schlimmeres und Schlimmeres, zuguterletzt Apokalyptisches, Sein und Nichts, ineinanderübergehende Gegensätze, die im Ringkampf nicht mehr voneinander zu unterscheidenden Patera und Bell.
Wie es scheint, war es Kubin bestimmt, sich durch alle Arten von Untergangsbildern zu träumen, und er erspart sie auch dem Leser nicht. Ganze 100 Seiten lässt Kubin den Untergang des Traumreiches sich hinziehn, beschreibt dabei minutiös dutzende Arten des Verfalls, lässt jeder Romanfigur einen gebührenden Tod zukommen (was ist das wohl: links ein großer Ameisenhaufen, aus dem ein paar bleiche Knöchelchen hervorschauen, rechts das gleiche, und in der Mitte ein schönes Matt?) und die am Ende wieder durchbrechende Sonne auf alle Farben der Verwesung scheinen.
Leben und Tod bedingen einander. Alles wandelt sich. Der Demiurg ist ein Zwitter.

(fritz; 07/2013)


Alfred Kubin: "Die andere Seite. Ein fantastischer Roman"
Mit einem Nachwort von Josef Winkler, 51 Zeichnungen und einem Plan (Großformat).
Suhrkamp, 2009. 300 Seiten.
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