Siddhartha Mukherjee: "Der König aller Krankheiten"
Krebs - eine Biografie
Wenn man über Krebs, diesen Schrecken der Menschheit, eine Biografie
schreibt, so widmet man sich einem Thema, das kaum den Kindesschuhen
entwachsen scheint. Krebs ist ein jugendliches Phänomen. Eine Geißel
unserer modernen Tage, die, des allgemeinen zivilisatorischen
Fortschritts wegen, uns erst dafür anfällig werden lässt. Man kann
sagen, dass Krebs erst dann zum Problem wurde, als jene Ursachen des
frühen Siechens und Sterbens wegfielen, die in vorangehenden
Jahrtausenden einer großen Mehrzahl von Menschen den Tod bescherten,
noch bevor in ihnen ein Tumor eine Gelegenheit zum Wuchern fand.
Wenn es nun heißt, dass der Onkologe Siddhartha Mukherjee eine Biografie
beziehungsweise Kulturgeschichte der Krebserkrankung geschrieben hat, so
ist dem auch sicherlich so. Und es ist eine packende Geschichte, die in
der vorchristlichen Welt ansetzt, und ein letztliches Verzagen und
Resignieren gegenüber einem unheimlichen Gegner beschreibt, dem
gegenüber man sich die längste Zeit über wehr- und machtlos wähnte. Erst
im 19. Jahrhundert ermöglichte der Fortschritt in der Anästhesie
chirurgische Eingriffe, mit denen man dem Krebs, welcher bei
verlängerter Lebenserwartung immer häufiger auftrat, zu Leibe rücken
konnte.
Für mich ist diese Kulturgeschichte - und sodann Medizingeschichte -
zwar das Hauptmerkmal dieses Buches, aber nicht der eigentliche Grund,
der mich dazu sprechen lässt. Der eigentliche Grund ist, es vermittelt
mir eine Empfindung der Abgeklärtheit. Es stimmt mich versöhnlich. Die
Diagnose Krebs wirft einen Menschen aus den gewohnten Bahnen. Das
gewohnte Bild vom eigenen Körper
verfremdet sich. Die eigene Natur wird als feindselig und bedrohlich für
das eigene ICH erlebt. Horrorgeschichten von wegen radikaler -
verstümmelnder und letztlich vergeblicher - operativer Eingriffe drängen
sich auf. Der Schrecken einer anstehenden Chemotherapie wird plötzlich
real, man gerät in Abhängigkeit zu einer als seelenlos erlebten
Apparatemedizin, und das eigene Leben wird mit einem Ablaufdatum
versehen. Die Zukunftsperspektive verkürzt sich auf eine abschätzbare
Restlebenszeit. Wenn der Mensch nach Sartre
die Summe seiner vergeblichen Selbstentwürfe ist, so lässt sich nunmehr
nichts mehr entwerfen. Nicht einmal vergeblich.
Siddhartha Mukherjee lehrt jedoch, diese neue Lebenslage aus einem
historischen, wissenschaftlichen und zutiefst menschlichen Kontext
heraus zu begreifen. Das Buch ist nicht als Lebensratgeber zu verkennen,
verspricht nichts und empfiehlt nichts. Der Patient ist der Held. Sein
Leben und Leiden hat Stil, Sinn und Würde. Der behandelnde und
forschende Mediziner steht ihm bei, sucht nach Wegen der Heilung oder
zumindest Linderung. An seiner Seite finden sich Wissenschafter aus
anderen Disziplinen - Chemiker, Physiker, Biologen, Techniker -, sie,
jeder auf seine Weise, reflektieren den Patienten. Aber auch vereinzelte
Personen von außerhalb des Kreises naturwissenschaftlicher Forscher, die
ihr bloßes Talent als Kommunikatoren und Netzwerker in den Dienst der
Sache stellen, die Öffentlichkeit aufrütteln, das Gewissen von
Entscheidungsträgern schärfen, und solcherweise - Ja! Man erklärte in
den USA dem Krebs den Krieg! - bedeutsame Ressourcen erschließen helfen,
treten in Erscheinung. Das Ringen ist im wahrsten Sinne interdisziplinär
und gelegentlich gar titanisch.
Man sieht, der Krebs ist ein Thema von unfasslicher Komplexität,
hochgradig individuell und vielfältig, mit einer fatalen Neigung zur
Mutation und einer verstörenden Überlebensfähigkeit. Insofern fordert er
die Menschheit in ihrer Gesamtheit heraus, und nicht bloß eine in sich
geschlossene Gruppe. Wobei massivste Versuche, diesen Gegner zu
überwinden, immer noch in ernüchternder Resignation endeten. Was
untröstlich stimmt.
Und doch ist Mukherjees Buch ein Stück tröstliche Lektüre, die nämlich
bei aller (leider begründeten) Hoffnungslosigkeit doch auch Hoffnung
gibt, weil sie zeigt und eine Perspektive verrät, wie der vom Krebs
betroffene Mensch, egal ob in der Rolle des Patienten oder in der Rolle
des Mediziners und Forschers, in Sieg und Untergang Würde bewahren kann.
Phasenweise jedoch ist es auch ein kämpferisches Buch, wenn es nämlich
dem Leser bewusst zu machen sucht, dass der Tod in Gestalt der
Krebserkrankung einen mächtigen Verbündeten hat: die Tabakindustrie. Es
ist unter Ärzten unbestritten, dass das Rauchen von Zigaretten für
einige bösartige Krebserkrankungen ursächlich ist: Lippenkrebs,
Rachenkrebs, Kieferkrebs, etc. und nicht zuletzt der besonders
heimtückische Lungenkrebs, welcher, noch bevor mit bildgebenden
Verfahren zu entdecken, bereits in andere lebenswichtige Organe
metastasiert. Und wenn er endlich in Gestalt von chronischen
Entzündungen der Lunge gewahr wird, längst schon in den Organismus
gestreut hat.
Die mächtige Tabakindustrie erwies sich als nicht nur sehr potenter,
sondern als überaus raffinierter Gegner, welcher zum Schein sogar die
Fronten wechselte, sich für alles offen zeigte, selbst Institute zur
Erforschung der Krebserkrankung einrichtete, hierfür Koryphäen des Fachs
engagierte, das alles mit dem heimlich verfolgten - also zu
unterstellenden – Zweck, letztlich zu keinem Ergebnis zu kommen, welches
Einschränkungen rechtfertigen würde. Mediziner waren demgegenüber
machtlos, ihre Argumente verhallten im alles relativierenden
akademischen Diskurs. Gesundheitspolitiker erwiesen sich allzu oft als
käuflich. Und die zur Bildung öffentlicher Meinung berufenen
Massenmedien am Inserat interessiert. Es waren schlussendlich
vereinzelte kämpferische Anwälte, welche als Rechtsvertreter von
Krebskranken die mächtigen Konzerne mit Unterstützung einer
unbestechlichen Justiz in die Knie zwangen.
Der Focus dieser spannend geschilderten, weil wahrlich kämpferischen und
mit hoher Fechtkunst ausgefochtenen Geschehnisse war zwar Nordamerika,
doch schreibt Siddhartha Mukherjee eine Weltgeschichte des Krebses. In
Europa sind vor allem den skandinavischen Ländern große Verdienste um
die Krebsforschung gutzuschreiben. Ein kontinentales Nord-Süd-Gefälle
ist leider zu konstatieren. Asien - der Ferne Osten - zieht nach, ist im
Kommen. Der Aufstieg Chinas gibt Hoffnung. Immerhin ist es gegenwärtig
immer noch die Minderheit einer Handvoll von Staaten, die wesentliche
Beiträge zur Krebsforschung leisten. Nordamerika, Nordeuropa und die
riesigen Pharmakonzerne der Schweiz. Der Autor lobpreist die große
Potenz europäischer Forscher, deren Erkenntnisse aber viel zu oft erst
in den Vereinigten Staaten von Amerika zur praktischen Entfaltung
gelangen. Wohl liegt in dieser Welt noch vieles brach, was zum Wohle der
Menschheit dienlich sein könnte.
Wer sich mit dem Thema Krebs beschäftigt, muss den herkömmlichen Begriff
vom Sieg, als Triumph über einen Gegner, ad acta legen und neu auslegen.
Krebs ist zwar nicht gleich Krebs, und einige Krebserkrankungen sind
heute zu 85 Prozent heilbar, weisen optimistische Prognosen aus, oder
führen (innovativer Behandlungsmethoden wegen) als bloß noch lästig
chronische Erkrankung neuerlich nicht (mehr) zum (frühen) Tod, sondern
zu einer eher nur lebenslangen Last, aber in nicht so wenigen anderen
Fällen tendieren die Fortschritte in den Behandlungsmethoden gegen Null.
Mit Stolz und Freude festgestellte Zugewinne bei der Überlebensdauer von
Patienten erwiesen sich zuletzt als statistische Selbsttäuschung.
Infolge verfeinerter Diagnoseinstrumente wird Krebs einfach immer früher
erkannt, dann aber nicht erfolgreicher behandelt als vor Jahrzehnten
schon, bzw. stellt sich die Frage nach dem Sinn oder Unsinn von
Behandlungen - mit all ihren schädlichen Nebenwirkungen. Tendenzen zur
Herausbildung eines Prostatakrebses lassen sich ja so gut wie bei allen
Männern früher oder später diagnostizieren. Soll man also alle Männer ab
der Lebensmitte auf Frühformen des Prostatakrebses behandeln?
Der Autor Mukherjee spricht diese Problemfelder offen an, er gibt zu,
dass die Medizin weit davon entfernt ist, einen Sieg über die Vielfalt
von bösartigen Tumorerkrankungen zu erringen. Ja, er zieht sogar in
Zweifel, dass dieser herbeigesehnte Sieg über diese meist heimtückische,
raffinierte und irgendwie fast gespenstische Krankheit jemals auch nur
absehbar sein wird. Auf noch ein jedes zur Euphorie stimmendes Heil-
und/oder Behandlungsverfahren wusste dieser fantastische Gegner eine
mehr oder weniger niederschmetternde Antwort. Auf fast noch jeden
Triumph folgte die Erniedrigung. Nur sehr langsam gewann und gewinnt man
da oder dort ein wenig an Boden. Und vorerst erfolgreiche Therapien
können letztlich selbst Krebs auslösen. Der Krebs erscheint dem
Onkologen beinahe als eine hoch intelligente, nicht fassbare Urgewalt,
die mehr zu sein scheint, als die Wucherungen entarteter und zur
Unsterblichkeit gelangter Zellen.
Man darf es dem Autor hoch anrechnen, dass er es trotzdem schafft, den
Leser in guter Stimmung zu entlassen. Vielleicht ist es ja eine Ehre,
diesem gewaltigen Gegner in Würde zu unterliegen. Durch das Schwert des
halbgöttlichen Achilles zu fallen, heißt, an seinem unvergänglichen Ruhm
teilzuhaben, für den er selbst zu Tode geht. Auch der Krebs -
halbgöttlich, weil wesenhaft unsterblich - geht mit dem Menschen, dem er
innewohnt, zu Tode.
(Harald Schulz; 07/2013)
Siddhartha Mukherjee: "Der König aller
Krankheiten. Krebs - eine Biografie"
(Originaltitel "The Emperor of All Maladies. A Biography of Cancer")
Übersetzt von Barbara Schaden.
DuMont, 2012. 670 Seiten.
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Anmerkungen des
Rezensenten:
Netzempfehlungen für Interessierte und Betroffene: Leben
mit Krebs.
Diese für Laien gestaltete informative Netzpräsenz enthält eine große
Sammlung frei abrufbarer Videovorträge sachkundiger Referenten
insbesondere der
Cancer School
Vienna.
Noch ein Buchtipp:
Sytze van der Zee: "Schmerz. Eine Biografie"
Was ist das eigentlich - Schmerz?
Kopf, Rücken, Nerven. Es sind Schmerzen, die die meisten Menschen zum
Arzt treiben. Wenn sie nicht aufhören, können sie das Leben zerstören.
Die Medizin
verspricht Schmerzfreiheit, doch dafür leiden viel zu viele. Allein
Deutschland zählt 15 Millionen Schmerzpatienten. Endlich gibt es ein
Buch, das das Phänomen Schmerz von allen Seiten in den Blick nimmt und
fragt: Wer und was ist das eigentlich? Und was weiß die Schmerzforschung
inzwischen?
Sytze van der Zee, geboren 1939, ist ein niederländischer Publizist. Er
war lange Deutschlandkorrespondent des "NRC Handelsblad",
stellvertretender Chefredakteur beim "Elseviers Magazine" sowie
Chefredakteur bei "Het Parool" und ist Autor mehrerer historischer
Sachbücher. Als er schwer erkrankte, begann van der Zee, sich mit dem
Thema Schmerz zu beschäftigen. (Knaus)
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