Julia Kissina: "Frühling auf dem Mond"
Eine Kindheit im Kiew der
Breschniew-Zeit
Der Roman "Frühling auf dem Mond" der 1966 in
Kiew geborenen und mittlerweile in Berlin lebenden ukrainischen
Autorin Julia Kissina, der nichtsdestotrotz im Original in russischer
Sprache verfasst ist, ist ein spannendes Porträt eines etwas
rebellischen und mit einer gehörigen Portion surrealistischer Gedanken
ausgestatteten Mädchens, das wohl als zumindest fiktives alter ego der
Autorin verstanden werden kann.
"Man zwingt mich zu wachsen. Man zwingt mich, das papierene Rückgrat
zu strecken. Man misst mich mit dem Lineal, ob mein Wachstum nicht
stockt, man wiegt mich und spickt mich mit Vitaminen. Meine Eltern
achten sorgfältig darauf, dass ihr mickriges Geschöpf Fleisch isst."
Julia wächst im jüdisch-bürgerlichen Milieu auf. Ihr Vater schreibt
Texte und Szenarien für den Zirkus, lebt in permanenter Angst,
denunziert zu werden. Die Mutter gibt sich der Pflege von wirren alten
Damen hin, und Julia erforscht und erkundet ihre Umgebung, ihre sich im
Stadium des langsamen Zerfalls befindende Heimatstadt Kiew.
Beeindruckend sind die Passagen dieses meist überzeugenden Textes, in
denen Julia Kissina die schmutzigen, dunklen, schäbigen, zerkratzten und
unschönen Seiten des spätkommunistischen Kiews zum Leben erweckt, indem
sie mit wunderschönen Sätzen leicht surreale Stimmungsbilder erzeugt. So
weckt sie verrostete Eisengestelle in einem Park zum Leben,
zugewachsene, verwilderte Wiesen, oberflächlich schöne noble
Straßenzüge. Das Kiew der jungen Julia ist eine wilde, verwunschene
Welt, in der die kommunistische Gesinnung nur am Rande Einzug hält, was
oft von der jungen Protagonistin unverstanden bleibt. So bleibt der
Blick auf das wilde Treiben unschuldig, was die Beobachtungen umso
interessanter für den Leser macht.
Nachts unterhält sich die Protagonistin mit den Führern des
Weltproletariats und trifft sich tagsüber oft mit einem älteren, sich
als Pole ausgebenden Schriftsteller, der nunmehr Bücher über
die französische Küche verfasst und Julia mit dem Anatomischen
Institut aus der Zeit der Zaren und Weißgardisten bekannt macht. In dem
Gebäude, versteckt in verwilderten Gärten,
findet Julia zu ihren "lunatistischen" Gedanken. Der Zerfall des
Materiellen und die Aura des Todes ziehen sie an und beleben ihre
Selbstwahrnehmung, die den Text dieses eindrucksvollen Romans nährt.
Nicht ganz so überzeugend ist leider die formale Gestaltung des Romans.
In kurzen Kapiteln rast das Geschehen von einer Sache zur nächsten. So,
dass man als Leser eher meint, eine Sammlung von Ereignissen, so wie
knappe Erzählungen, die teilweise Schnittstellen haben, meistens aber
nicht, zu lesen. So findet die Sprache in der Form keinen Partner, was
den Roman noch stärker gemacht hätte. Auch die Personen dieses Romans
bleiben teilweise überzeichnet und verschiedensten Klischees verhaftet,
vom korrupten Onkel bis hin zur verrückten alten Dame in der Anstalt und
den Anderen; das ist allerdings offensichtlich so gewollt, damit der
Leser die Begleitfiguren eben nur als solche, gesehen durch die
surreal-getönte Brille der jungen Julia, gesehen werden.
Von Valerie Engler großartig übersetzt, ist Julia Kissinas erster Roman
"Frühling auf dem Mond",
ihre dritte Veröffentlichung, nach einem interessanten Erzählungsband
"Vergiss Tarantino" und einem Kinderbuch, sicherlich eine wirkliche
Empfehlung, auch wenn der Rezensent die eine oder andere Kleinigkeit
bemängelt hat.
(Roland Freisitzer; 04/2013)
Julia Kissina: "Frühling auf dem Mond"
(Originaltitel "Vesna na lune")
Aus dem Russischen von Valerie Engler.
Suhrkamp, 2013. 249 Seiten.
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Julia Kissina gehörte in den
1980er-Jahren zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten um
Vladimir
Sorokin und Pawel Pepperstein und machte sich mit spektakulären
Kunstaktionen und als Fotokünstlerin auch international einen Namen.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Elephantinas Moskauer Jahre"
Von Sehnsucht nach dem freien Künstlerdasein gepackt, folgt die junge
Elephantina ihrem Idol in die Katakomben Moskaus. Der rotgesichtige
Dichterguru Pomidor, ein Mann in den besten Jahren, prominenter Kopf der
Avantgarde, hat sie die "neue Achmatowa" genannt. Vergessen das
provinzielle Kiew, die öde Kunstschule. Durch Bahnhöfe,
Theatergarderoben und Museen von einer Schlafstatt zur nächsten irrend,
findet die nonnenhaft gekleidete Nomadin eine Wohnung, die sie schon
bald in eine Künstlerkolonie verwandelt. Dichterabende in überfüllten
Studentenklubs mit Spitzeln in den hinteren Reihen, verbotene
Kunstaktionen in Moskau und Umgebung, die Begegnung mit Allen Ginsberg,
eine Vorladung beim KGB - doch all das ist nur die Kulisse, vor der
Elephantina sich nach Pomidor verzehrt.
Eine éducation sentimentale in kräftigen Farben, episodenreich und
voller Temperament und Gelächter. (Suhrkamp) zur
Rezension ...
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