Pascale Hugues: "Ruhige Straße in guter Wohnlage"

Die Geschichte meiner Nachbarn


Biografie eines Berliner Mikrokosmos

Als Pascale Hugues, eine Französin aus dem Elsass, ihre Wohnung in einem alten Haus im Berliner Schöneberg bezieht, beginnt sie wie wohl jeder "Zugezogene", mit Interesse ihre neue Wohngegend zu erkunden, doch sie geht tiefer: Die Autorin möchte auch die Geschichte ihrer Straße kennen lernen, die Historie dieser eigenartigen Mischung aus wilhelminischem Pomp und Prunk und nüchternen Nachkriegshäusern, eilig hochgezogen, um in der zerbombten Stadt wieder Wohnraum zu bieten - wozu sich im Zuge der Gentrifizierung moderne Wohngebäude gesellen.

Sie findet alte Menschen, die in dieser Straße gelebt haben, und interviewt diese. Zu den ersten Bewohner gehörten reiche Kaufmanns- und Unternehmerfamilien, Angehörige des Bildungsbürgertums und ihre Dienstboten; allein die "Straßenälteste" ist von ihnen übrig geblieben. Sie hat den Holocaust überlebt, viele andere jüdische Bewohner der Straße jedoch nicht. Auf manchmal abenteuerlichen Wegen hat Pascale Hugues einige Überlebende aus ihrer Straße in Israel und den USA aufgespürt und mit ihnen gesprochen. Es folgen andere Schicksale, jene der Ausgebombten und viel zu jungen Kriegswitwen, der Flüchtlinge. Die Biografien zeigen das Nachkriegselend auf und das Wirtschaftswunder, die 68er - in Hugues' Straße lebten unter Anderem Mitglieder der Kultband "Tangerine Dream" und David Bowie; Otto Waalkes und Andere drehten dort - und schließlich die Wende und in der Folge das zunehmende Spekulieren mit Grundstücken und seine Folgen.

Auf spannende Weise verflicht Pascale Hugues Fakten mit persönlichen Schicksalen, Fotos mit Zitaten aus schriftlichen Quellen, persönliche Eindrücke mit jenen von Nachbarn. Sie entwirft das Bild - das freilich eher einem Film gleicht - einer im Grunde sehr gewöhnlichen Straße, mit den typischen Figuren, dem Stänkerer und seinem Gegenspieler, dem Paria, und dem ganzen breiten Spektrum "normaler" Bürger. Recht viel Farbe gibt natürlich das einige Zeit in der Straße angesiedelte kleine Bordell, ebenso die schon erwähnten Musiker. Als Bindeglied wirken immer wieder kleine Ausflüge in die Gegenwart der Straße.

Drei Fotoblöcke machen den Leser noch intensiver mit den Protagonisten vertraut. Die Bilder zeigen Personen und Wohnungsinterieurs aus den verschiedenen Epochen des 20. Jahrhunderts, bisweilen auch die interviewten Menschen, wie sie heute aussehen. Zudem lernt der Leser so die Straße genauer kennen: wie sie zur wilhelminischen Zeit aussah und später, unmittelbar nach dem Krieg, vor allem aus grotesken Gebäuderesten und Trümmern bestehend. Auch einige abfotografierte Dokumente finden sich.

Bewundernswert ist neben ihrem Erzähltalent, ihrem empathischen Nachspüren und Wiedergeben der Lebensgeschichten, Pascal Hugues' Ausdauer beim Recherchieren. Gelegentlich klingt an, durch wie viele Akten und andere Dokumente sie sich in Vorbereitung des Buches gearbeitet hat, wie schwierig es war, die eine oder andere Person aufzuspüren. Diese Leistung verdient aufrichtigen Respekt, insbesondere, wenn daraus ein alles Andere als nüchternes Sachbuch entsteht, sondern ein Werk, das ein fesselnder Roman sein könnte, wenn es nicht die Wahrheit berichtete.

Hat man einmal angefangen, so mag man gar nicht mehr aufhören und taucht tief ein in all diese Biografien, die sich schließlich zum Lebensbild einer ganzen Straße zusammenfügen, ein faszinierendes Mosaik, das womöglich den Leser anregt, in seiner eigenen Straße, in seinem Viertel zu recherchieren und nach den Geschichten zu suchen, die dort auf Entdeckung warten.

So wendet sich dieses Buch auch keineswegs nur an Berliner; die Straße steht stellvertretend für so viele Straßen in Deutschland mit ihren individuellen Schicksalen. Ausgesprochen empfehlenswert!

(Regina Károlyi; 09/2013)


Pascale Hugues: "Ruhige Straße in guter Wohnlage.
Die Geschichte meiner Nachbarn"

(Originaltitel "Rue tranquille dans beau quartier")
Aus dem Französischen von Lis Künzli.
Rowohlt, 2013. 319 Seiten.
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Pascale Hugues, geboren 1959 in Straßburg, arbeitet seit 1989 als Korrespondentin in Deutschland, zunächst für die französische Zeitung "Libération", heute für das Magazin "Le Point". Sie schreibt auch für den "Tagesspiegel" und die "Süddeutsche Zeitung". Sie hat zwei Filme für "ARTE" gedreht und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Bei Rowohlt erschienen ihre Bücher "Marthe & Mathilde" und "In den Vorgärten blüht Voltaire":

"Marthe & Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland"
Seite an Seite durchwandern Marthe und Mathilde im Elsass das 20. Jahrhundert, leben im selben Haus und erleben doch unterschiedliche Schicksale. Denn Marthe ist Französin und Mathilde Deutsche. Spannend, mit Zärtlichkeit und poetischer Kraft erzählt Pascale Hugues die ungewöhnliche Geschichte ihrer Großmütter, in der zugleich ein Stück brisanter deutsch-französischer Vergangenheit auflebt. (rororo)
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"In den Vorgärten blüht Voltaire. Eine Liebeserklärung an meine Adoptivheimat"
"Ich heftete meine Blicke an die Ferne und hätte darüber beinahe vergessen, mich dort umzuschauen, wo ich war. Doch bald bemerkte ich: Die wahre Exotik wartet an meiner Türschwelle, im Treppenhaus, im Hinterhof, am Ende meiner Straße. Ich muss gar nicht weit gehen ..."
Mit liebevoll-scharfem Blick beobachtet die französische Journalistin Pascale Hugues den deutschen Alltag und zeichnet ein hinreißendes Porträt ihrer Wahlheimat Berlin. (rororo)
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Noch ein Buchtipp:

Oscar Coop-Phane: "Bonjour Berlin"

Coop-Phane beschreibt die Erlebnisse dreier junger Männer Anfang 20, die sich in Berlin treffen und tief in die Stadt eintauchen. "Bonjour Berlin" ist ein Generationsroman, ein Paris- und Berlinroman, ein Techno- und Drogenroman und ein fein gesponnener psychologischer Roman zwischen Weltschmerz-Tristesse und ekstatischer Enthemmtheit. (Metrolit)
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