Erich Hackl: "Dieses Buch gehört meiner Mutter"
"Geschichten werden
nicht erfunden.
Sie werden vererbt." (Edgardo
Cozarinsky)
Erich Hackl hat sich die Schuhe seiner Mutter angezogen. Er hat den
Versuch unternommen, aus der Sicht seiner Mutter ihr Leben, ihre Träume,
ihre Wünsche, ihre Ängste nachzuvollziehen. Sie hat ihm immer wieder von
ihrer Kindheit und Jugend erzählt. Somit sind die Erinnerungen, die sie
ihm vererbt hat, weitgehend auf ihre ersten 25 Lebensjahre konzentriert.
Was hier zustande gekommen ist, hat nichts mit einer Biografie zu tun.
Es handelt sich auch um keine "Autobiografie" der besonderen Art. Nein,
es ist viel mehr: Rilke
hat einst einen wunderschönen Satz in ein Gedicht geordnet. Die Welt
steht auf mit euch. Und genau dies vollzieht sich in diesem
Erinnerungsbuch Seite für Seite, Absatz für Absatz, Satz für Satz, Wort
für Wort. Der Leser nimmt Anteil an dieser Welt, die sich vor ihm
abbildet, durch die er einen Eindruck davon bekommt, wie das Leben eines
Kindes, eines Mädchens, einer Jugendlichen, einer jungen Frau in den
1920er- bis 1940er-Jahren gewesen sein mag. Er erfährt von den Eltern,
Freunden, Verwandten einer Frau, die mittlerweile nicht mehr unter uns
weilt. Nur wer bereit ist, sich mit den Erinnerungen von Menschen
auseinander zu setzen, deren Zeit sich erfüllt hat, kann für sein
eigenes Leben andere Perspektiven gewinnen. Es klingt wie Pathos, doch
über den eigenen Tellerrand hinausschauen kann nur der, dessen Blick
nicht durch andere Menschen hindurchgeht, sondern in sie hineingeht.
"Wäre ich eine andere geworden in der Fremde,
wäre mir die Fremde Heimat geworden.
Das hätte mich schon gereizt:
mir gegenüberzutreten als die andere."
Das Porträt einer Frau, die in eine Welt hineingeboren wurde, an der sie
hätte zerbrechen können. Sie wuchs in einem kleinen Dorf im unteren
Mühlviertel nahe der tschechischen Grenze auf. Ihre Kindheit war
gekennzeichnet durch eine enge Perspektive, die ihr eingebläut zu werden
versuchte. Doppelmoral, wo immer der Blick hinging. Aber hinter all dem
Schein, der ihre Welt ausmachte, entwickelte sich ein Mädchen langsam
zur Frau und fand am Ende den Mann, dem sie sich anvertrauen wollte. Der
strenge Katholizismus hing wie ein Damoklesschwert über der
Dorfgemeinschaft. Der Krieg änderte daran nichts. Er rieb die Menschen
noch mehr auf, ließ sie zu Verrätern werden. Es gab Prügeleien, es gab
Tote, es gab Menschen, die sich selbst das Leben nahmen, weil sie keine
Hoffnung mehr sahen. Und Wien war vergessen, wie ein Traum. Aber was für
ein Traum war das gewesen!
"Bei uns im Dorf gab es keine Juden.
Hätte es welche gegeben und dann keine mehr,
müssten wir uns ins Grab
hinein noch schämen."
Erich Hackl hat seiner Mutter kein Denkmal gesetzt, sondern sich in sie
hineinversetzt. Er wollte dem nachgehen, was ihre Erinnerungen ganz zart
beleuchteten. Er erklärt schließlich auch in einem Nachwort, warum
dieses Buch seiner Mutter gehört. Und dass es ihr gehört, ist vom ersten
Satz an klar. Wer diese Frau gewesen ist, wird immer ein Mysterium
bleiben. Das hängt damit zusammen, dass es immer Geheimnisse gibt, die
nie gelüftet werden können, nicht einmal vom Geheimnisträger selbst.
Auch diese Komponente wird sichtbar, indem sie den Schleier auf das
legt, was wir als Wirklichkeit definieren möchten. Die traurigste und
schönste Geschichte des Buches ist jene, als das junge Mädchen seinem Hund
das Leben rettet, indem es nicht zulässt, dass dieser jahrelange
Begleiter ihres Lebens zum Spender von Hundefett erniedrigt wird, das
als Mittel gegen Schwindsucht zum Einsatz kommen sollte.
Und es sind so viele Geschichten, die dieses Buch kennzeichnen. Erfreuen
wir uns an ihnen, vergießen wir Tränen wegen ihrer Präsenz, aber sind
wir uns immer bewusst, dass hinter diesen Geschichten eine Frau steht,
deren Sohn in ihre Schuhe geschlüpft ist, um verstehen zu lernen, wer
seine Mutter
gewesen sein könnte.
(Jürgen Heimlich 11/2013)
Erich
Hackl: "Dieses Buch
gehört meiner Mutter"
Diogenes, 2013. 116 Seiten.
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