Arnon Grünberg: "Der jüdische Messias"
Jahrelang wurde die
deutsche Übersetzung und Veröffentlichung dieses großen jüdischen
Romans von Arnon Grünberg zurückgehalten. In den Niederlanden seit dem
Jahr 2004, als es erschien, mit viel Kritikerlob bedacht, erfuhr das
Buch Veröffentlichungen in England, Frankreich, Spanien, Italien,
Portugal und Ungarn. Ja, sogar in der Türkei wurde das Buch auf den
Markt gebracht.
Obwohl "Der jüdische Messias" schon seit dem 25. März 2013 in deutscher
Übersetzung erhältlich ist und bereits Wochen zuvor an die Kritiker
verschickt wurde, schweigt die etablierte Literaturkritik bislang.
Offenbar weiß man nicht, wie man mit dieser Form eines zynischen und
ironischen Humors umgehen soll?
Die nun um fast ein ganzes Jahrzehnt verspätete deutsche Übersetzung
brauchte deshalb so lange, weil man beim Verlag offensichtlich der
Meinung war, einen Roman, in dem "du-weißt-schon-wer", wie Adolf Hitler
in diesem Buch durchgängig genannt wird, eine Art jüdischer
Reinkarnation erfährt, einem deutschsprachigen Publikum nicht zumuten zu
können. Warum es nun anno 2013 auf einmal geht - wir wissen es nicht ...
Tatsache ist, dass Arnon Grünberg in diesem Werk seine ironische und
voller bizarrem Humor, (hinter dem sich immer ein besonderer Ernst
verbirgt), steckende literarische Kunst zu einem Höhepunkt gebracht hat.
Zwei Protagonisten hat er für diesen Roman erdacht: Xavier Radek aus
Basel, dessen deutscher Großvater bei der SS als Aufseher in einem KZ
viele Juden eigenhändig erschlagen hat, und dessen Mutter von diesem
Großvater eine Art von Heldenlegende erschaffen hat. Sie selbst hat als
Mädchen "du-weißt-schon-wen" geliebt und ihre Verehrung bis in die
Jetztzeit hinübergerettet.
Xavier Radek, in dessen Person Arnon Grünberg im Verlauf des Romans alle
Mythen über Hitler verarbeitet, fühlt eine große Berufung: Er hat sich
der Idee verschrieben, für die Taten des Großvaters auf seine Weise zu
büßen: "Er würde die Juden trösten."
Er sucht den Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Basel, lernt dort den
Rabbinersohn Awrommele kennen und gibt sich als assimilierter Jude aus.
Awrommele, mit dem Xavier bis zum Ende des Buches eine homoerotische
Beziehung unterhält, hat sehr schnell eine nachträgliche Beschneidung
organisiert, bei einem alten Mohel, dem jedoch, fast blind, die
Beschneidung zum Massaker gerät. Xavier verliert nicht nur, wie er
wollte, seine Vorhaut, sondern auch einen Hoden, der, von den Ärzten,
die den schwer verletzten Xavier operieren, nachdem ihn seine Mutter und
deren Freund lange liegen gelassen haben, in einem Glas konserviert
wird. Xavier wird den Hoden immer mit sich tragen und ihn bald als
"König David" verehren.
Xavier ist von seiner großen Mission, die Juden trösten zu müssen ("Auch
das jüdische Volk braucht Lebensraum") ganz erfüllt, und er will
mit seinem Freund Awrommele beginnen. Beide versichern einander immer
wieder, dass sie nichts fühlen und fliehen bald nach Amsterdam, wo
Xavier in einer Kunstschule anzukommen versucht. Doch dort rät man ihm,
lieber einen Blumenladen aufzumachen, eine Kränkung, die ihn lange
beschäftigt.
Ihr großes Projekt ist allerdings die Übersetzung von Hitlers "Mein
Kampf" ins Jiddische, an der sie ihr ganzes Leben lang arbeiten. Auch
später noch, als nach der Einwanderung nach Israel Xavier eine große
Karriere macht, mit der er wie "du-weißt-schon-wer" einen Weltenbrand
heraufbeschwört. Einem alten Hamasführer entwickelt er dabei seine
Theorie über die Israelis und die Palästinenser:
"Wir bleiben geteilt und beherrscht. Reine Blitzableiter. Ohne uns
würde die Region in die Luft fliegen, von Ägypten bis Syrien, Bahrein
bis Saudi-Arabien, aber das brauchen wir uns nicht ewig gefallen zu
lassen. Jetzt sind wir bloß Spielfiguren, Statisten, die ab und zu
einen Brief auf die Bühne bringen dürfen, aber wissen Sie, wovor die
anderen wirklich Angst haben? Dass wir uns zusammentun könnten. Meine
Mutter sagte einmal: Hätte der Faschismus sich nicht gegen die
Israeliten gekehrt, sondern sich mit ihnen vereint, wäre er in Europa
immer noch eine lebendige Strömung. Wir sind nicht zu dieser
Statistenrollen verurteilt, wir müssen nicht ewig für die Interessen
anderer bluten."
Ich halte "Der jüdische Messias" für ein zentrales Buch im Werk Arnon
Grünbergs und bin froh, dass es endlich deutschsprachigen Lesern
zugänglich ist.
(Winfried Stanzick; 05/2013)
Arnon
Grünberg: "Der jüdische Messias"
(Originaltitel "De Joodse Messias")
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Gebundene Ausgabe:
Diogenes, 2013. 640 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Diogenes, 2014.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Der Mann, der nie krank war"
Arnon Grünberg nimmt den Leser in diesem Roman mit auf eine
atemberaubende Reise.
Ein junger Schweizer Architekt fliegt in den Irak, weil er ein Opernhaus
für Bagdad entwerfen soll. Doch was dort passiert, führt zu nicht
weniger als einer existenziellen Erschütterung. Eine rasante, spannende,
verblüffende Lektüre, nach der man sich die Augen reibt und von vorne zu
lesen beginnt. Große Literatur von einem zu Recht weltweit gefeierten
Autor.
Samarendra, Sohn eines indischen Vaters und einer Schweizer Mutter, ist
ein ehrgeiziger junger Architekt, der im Auftrag eines reichen
Exil-Irakers eine Oper in Bagdad entwerfen soll. Sam erwartet, mit allem
Komfort empfangen zu werden, denn "wie er in der Zeitung gelesen
hatte, war dort das Schlimmste so ziemlich vorbei". Er ist voller
Idealismus und lebt für seine Entwürfe - und für die Pflege seiner
behinderten Schwester Aida. Erst an dritter Stelle kommt seine Freundin
Nina, für die er Liebe, aber nicht immer Leidenschaft empfindet. Sams
Reise nach Bagdad
verläuft von Beginn an holprig: In seinem Koffer befindet sich fremde
schmutzige Kleidung, das Internet funktioniert nicht, sein Auftraggeber
lässt auf sich warten. Und ganz plötzlich bricht Sam der Boden unter den
Füßen weg ...
"Der Mann, der nie krank war" bringt die trügerische Sicherheit, in der
wir zu leben meinen, ins Wanken. Virtuos stellt Grünberg in Frage, wie
verlässlich unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ist. Sein in glasklarer,
scharfer Sprache erzählter Roman entwickelt einen Sog, der uns in die
Tiefen der eigenen Abgründe führt. (Kiepenheuer & Witsch)
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