Evelyn Grill: "Der Sohn des Knochenzählers"


Ein kleiner österreichischer Ort. Dort lebt ein Archäologe, den die Dorfbewohner nur den "Knochenzähler" nennen, zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn Titus. Doch irgendwann ist die Frau, die der Archäologe von einer Italienreise mitgebracht und geheiratet hatte, spurlos verschwunden. Alle in dem kleinen Dorf mit seinen 900 Einwohnern spekulieren, was wohl mit der Frau des Knochenzählers geschehen sein mag? Wurde sie entführt? Ist sie mit einem Geliebten durchgebrannt?

Titus, der 21-jährige "Sohn des Knochenzählers" ist die Hauptperson des kleinen, nur etwa 130 Seiten umfassenden, sehr dichten Romans, um dessen inneres Erleben die Erzählung im Wesentlichen kreist. Im Alter von fünfzehn Jahren kam es im Leben von Titus zu einer dramatischen Veränderung, lange bevor seine Mutter verschwand. Während eines Sonnenwendfeuers, eines wichtigen Rituals in einem Dorf, dessen übermächtiger Nachbarberg jedes Jahr schon am 1. November die Sonne sozusagen verschluckt und seine Bewohner in einer sie psychologisch prägenden Dunkelheit zurücklässt, ist Titus bei einem Sprung durch das Feuer gestürzt. Seitdem ist seine linke Gesichtshälfte völlig entstellt.

Evelyn Grill lässt den Leser durch ihre fortschreitende, von zahlreichen Rückblicken unterbrochene Erzählung an einer psychologischen und persönlichen Tragik eines immer deutlicher werdenden Netzes aus Schuld und Verantwortung und der einsamen Außenseiterstellung ihres Protagonisten teilhaben.

Lange Zeit weiß Titus nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Als er mit dem Gedanken spielt, die freie Stelle des Friedhofswärters anzunehmen, taucht ein Mann namens Zanotti im Dorf auf.  Er wird der neue Friedhofswärter sein und bietet Titus eine Art Assistenz an. Zanotti erzählt Titus, seine Mutter habe an jenem denkwürdigen Abend, als sie spurlos verschwand, eigentlich mit ihm, Zanotti, weggehen wollen, um mit ihm ein neues Leben zu beginnen.

Stimmt das? Das fragt sich nicht nur Titus, sondern auch der Leser, der in der Folge durch viele versteckte und manche offene Hinweise der Autorin auf einen spannenden Weg zu Lösung nicht nur dieser Frage geschickt wird. Der ganze Roman ist durchwebt von solchen Andeutungen, die in ihrer Summe zur Enthüllung der entscheidenden Fakten führen. Es wird Titus selbst sein, der am Ende das Geheimnis lüftet, das bisher über dem Verschwinden seiner Mutter lag.

Es ist eine einfache, poetische Sprache, mit der Evelyn Grill den melancholisch-düsteren "Ton" des Lebens in einem kleinen Dorf im Salzkammergut trifft. Auch dieser Roman handelt wie "Das römische Licht" oder "Das Antwerpener Testament" von einer Familientragödie, die in Rückblicken und in der erzählten Gegenwart verständlich gemacht wird.

"Der Sohn des Knochenzählers" ist ein intensiver, spannend unter die Haut gehender Roman, in dem die Autorin konsequent und beängstigend ruhig auf einen Schluss zusteuert, der logisch überzeugt, ja gar nicht anders möglich ist.

(Winfried Stanzick; 04/2013)


Evelyn Grill: "Der Sohn des Knochenzählers"
Residenzverlag, 2013. 136 Seiten.
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