Juan Goytisolo: "Reise zum Vogel Simurgh"
Eine existenzielle Reise
Vorweg, dieser bereits 1988 im Original erschienene Roman des großen
spanischen Schriftstellers Juan Goytisolo, "Reise zum Vogel Simurgh",
die genaue Übersetzung des Originaltitels wäre eigentlich "Die
Eigenschaften des einsamen Vogels" und wäre vielleicht treffender, hat
es in sich.
Auf 202 nicht besonders dicht bedruckten Seiten webt der spanische
Großmeister ein intrikates Netz von Anspielungen und fein eingefügten
Zitaten, die den Leser eindeutig dazu animieren, sich zuerst näher mit
dem Nachwort und diverser auffindbarer Sekundärliteratur zu
beschäftigen, da der Leser ohne dieses Wissen viele der hier verborgenen
Schätze wahrscheinlich nicht entdecken und aufdecken wird können.
Juan Goytisolo am 6. Februar 2010. Foto: Doris Krestan. |
Juan Goytisolo stellt
in seinem Roman die Verbindung zur Geschichte des spanischen
Mystikers San Juan de la Cruz aus dem 16. Jahrhundert her, ja
eigentlich versucht sich Goytisolo an einer Nachdichtung bzw.
einer Neudichtung oder Umdichtung des "Tratado de las virtudes
del pájaro solitaro", ein Werk, das der alte Mystiker der
Legende nach in der Nacht seiner Entführung 1577 zerriss und
verschluckte. Eine Entführung, die für den von seinen Gegnern
wegen seiner mystischen, als Liebeslyrik getarnten Texte zur
Gotteserfahrung Verdächtigten in Haft und Folter ausartete. |
Wenn man parallel dazu
versucht, sich an den Jahren der Entstehung dieses Romans zu
orientieren, so bemerkt man, wie viele der damals aktuellen Bedrohungen
in den Text eingeflossen sind. Zusätzlich sollte erwähnt werden, dass
der Autor diesen Roman schrieb, als er befürchtete, sich mit dem
HIV-Virus angesteckt zu haben.
Tschernobyl ist unschwer zu entdecken, Massenhinrichtungen in Chile und
Kuba sind ebenso aufzufinden wie Verfolgungen religiöser und politischer
Natur in der Sowjetunion. Hier schafft Goytisolo eine absolute Aufhebung
der Zeit, indem er hunderte von Jahren zurückliegende Verfolgungen in
eine übergeordnete, nur in seiner Literatur existierende Zeit versetzt,
die quasi freischwebend aus dem Zeitkontinuum losgelöst ist.
Viele besondere sprachliche Feinheiten des spanischen Texts gehen
zwangsläufig auch in der mehr als großartigen Übersetzung von Thomas
Brovot verloren. Beispielsweise verwendet man auf Kuba das Wort "pájaro"
als unangemessene Bezeichnung für Homosexuelle, und die Verweise auf Ibn
Sida, den blinden Lexikografen, ziehen die Essenz des Textes noch weiter
zusammen, da "sida" die spanische Bezeichnung für AIDS
ist.
In den ersten fünf Teilen beschäftigt sich Goytisolo mit San Juans
Gefangenschaft, während der die Seele fantasierte Reisen unternimmt, die
sie nach Jalta, nach Paris, oder auch in eine besonders verstörende
Bibliothek führt, die dem Rezensenten als eine bewusst an Borges
erinnernde Hommage schien. Klaustrophobie bestimmt diesen Teil der
Inhaftierung, auf engstem Raum bricht nur die Seele aus und wird so
zwangsläufig den verschiedensten Veränderungen unterworfen, die den
Leser auf atemberaubende literarische Reisen mitnehmen. Goytisolos
literarische Welt in Großaufnahme, stärker und kompromissloser in diesem
Roman als in seinen anderen Werken. Vielleicht deshalb, weil dieser
Roman so autobiografisch gefärbt ist, wie kein anderer des großen
Spaniers.
Im sechsten Teil entkommt, flieht, entströmt die Seele, schwingt sich
befreit aus dem Körper des ständig seine Gestalt und sein Geschlecht
wechselnden Erzählers. Auf der Reise zum Ich findet sie zur
Vollkommenheit und zur endgültigen Befreiung.
"Reise zum Vogel Simurgh" ist ein großartiger Roman, der seine Knospen
erst nach einer möglicherweise aufwändigen und verstörenden
Eingewöhnungsphase öffnet, um seine Blüten in voller Schönheit blühen zu
lassen. Virtuos erzählt, intellektuell fordernd, aber auch äußerst
spannend, ist es ein Roman, den man mehrmals lesen sollte, um ihn
wirklich schätzen zu können. Lektüre für den Urlaub ist dieses Buch
definitiv nicht. Wie bereits angedeutet, die aufgewendeten Mühen werden
am Ende reichlich belohnt. Und das ist, meint der Rezensent, ganz große
Literatur.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 01/2013)
Juan
Goytisolo: "Reise zum Vogel Simurgh"
(Originaltitel "Las virtudes del pájaro solitario")
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp, 2012. 202 Seiten.
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Weitere Lektüretipps:
Ibn al-Farid: "Der Diwan. Mystische Poesie aus dem 13. Jahrhundert"
Aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Renate Jacobi.
Ibn al-Fari, (1181-1235), der "Fürst der Liebenden", wie ihn die
islamische Tradition nennt, verbindet in seinem Diwan die Tradition der
klassischen arabischen Dichtung mit der Theosophie des Sufismus seiner
Zeit, des 12. und 13. Jahrhunderts. Als Dichter wird er in seiner
eigenen Kultur bis heute bewundert und als Heiliger verehrt. Als
Mystiker war er jedoch umstritten und wurde wegen seiner "monistischen
Ketzerei" abgelehnt und bekämpft. Die Manifestation Gottes im Kosmos und
die Kontemplation irdischer Schönheit als ein Weg zu mystischer
Erfahrung sind Grundthemen seiner Dichtung.
In seinem großen Lehrgedicht "Die Ordnung des Weges" beschreibt und
deutet er in 761 Versen seinen eigenen Weg zur Einheit bis zur höchsten
Stufe, dem kosmischen Bewusstsein. Es ist ein spiritueller
Reisebericht, ungewöhnlich, vielleicht einzigartig in der mystischen
Literatur durch die Subtilität der psychologischen Beobachtung und
Analyse, Zeugnis einer authentischen Erfahrung, die über die Grenzen von
Religionen und Kulturen hinweg gültig erscheint.
Ibn al-Fari ist christlichen Mystikern wie Meister
Eckhart (etwa 1260-1328) oder Johannes vom Kreuz (1542-1591) an
die Seite zu stellen.
Die erste vollständige deutsche Übersetzung des Diwans von Ibn al-Fari.
(Verlag der Weltreligionen)
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Peter Hamm: "Pessoas Traum oder
'Sei vielgestaltig wie das Weltall!'"
Der Dichter Fernando Pessoa zählt zu den Hausgöttern Peter Hamms. In
diesem Band beleuchtet er das komplizierte Verhältnis Pessoas
zu Politik und Mystik, lenkt die Aufmerksamkeit in den Essays aber auch
auf andere Dichter der Iberischen Halbinsel: Camões,
der den Untergang des portugiesischen Reichs besang; Miguel de Unamuno,
der alle Widersprüche Spaniens in sich austrug; Antonio Machado, der
ergreifendste Lyriker im Spanien des 20. Jahrhunderts; Salvador Espriu,
der mit seiner Poesie zur Stimme Katalaniens wurde. Schließlich zeichnet
Peter Hamm das Martyrium der Liebe zwischen
Ingeborg Bachmann
und Paul Celan nach, und er feiert die zweistimmige Einheit der Freunde
Hermann Lenz und Peter
Handke. (Hanser)
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