Rüdiger Safranski: "Goethe"
Kunstwerk des Lebens
Goethe und die "Pyramide
seines Daseins" in 34 Kapiteln
Er hatte viel vor für sein Leben. Hoch hinaus sollte es gehen, so hoch
wie möglich, auf der Pyramide seines Daseins, aber auch wenn das
Schicksal diese stumpf und unvollendet lassen würde, dann sollte man
wenigstens sagen können:
"Es war kühn entworfen." So sah Johann Wolfgang von Goethe seinen
Lebensplan in einem Brief an Johann Kaspar Lavater von 1780. Zu diesem
Zeitpunkt hatte er schon kräftig an dieser seiner Pyramide gebaut, ihr
ein stabiles Fundament verliehen und eine erste Ausbaustufe hinzugefügt.
Mit knapp über 30 hatte Goethe in der fürstlichen Residenzstadt von
Weimar alles erreicht, was ein Bürgerlicher erreichen konnte. Er
war auf dem Gipfel seiner Amtskarriere. "Wirklicher Geheimer Rat",
Mitglied des Geheimen Consiliums, Verwalter des Militärwesens und
Bergbaus, Direktor der Zeichenakademie ..., und er bewohnte ein
standesgemäßes Haus.
Als Goethe sich mit gerade einmal 26 Jahren in sein neues Leben in
die Dienste des Herzogs von Sachsen-Weimar stürzte, brach er
abrupt mit dem Geniedasein in Frankfurt. Mit dem Drama "Götz von
Berlichingen" und dem Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" ist er
zu einem europaweit berühmten Dichter geworden. Doch nun hieß es, die
Schriftstellerei dem Leben zu subordinieren, wie er es ausdrückte.
Rüdiger Safranski, kompetenter und leidenschaftlicher Biograf von
deutschen Geistesgrößen wie Heidegger, Nietzsche und
Schiller,
legt mit seiner Goethe-Biografie ein Herzstück seines Schaffens vor.
Ungeachtet des bereits im Übermaß Vorhandenen an Geschriebenem,
Gedachtem und Interpretiertem lässt sich Safranski auf das Wagnis ein,
sich diesem vielleicht letzten deutschen
Universalgelehrten ausschließlich aus den primären Quellen -
Tagebüchern, Werken, Briefen, Gesprächen - zu nähern. Daraus entsteht
ein überraschend lebendiges und damit eindringliches Bild der
sogenannten Goethe-Zeit. Ausformuliertes Werk und gelebtes Leben stehen
einträchtig ergänzend nebeneinander.
Chronologisch und systematisch rollt Safranski diese historische
Übergangszeit aus. Beginnend anno 1749 bei Kindheit und Elternhaus in
Frankfurt, über die Studienzeit in Leipzig und Straßburg, die
Sturm-und-Drang-Periode, die Übersiedlung nach Weimar bis zu seinem Tod
1832 ebendort lässt uns der Autor den Bau der Goetheschen Lebenspyramide
mitverfolgen. Literaturhistorisch erleben wir die Wandlung vom
ungestümen Sturm-und-Drang-Dichter zum großen Klassizisten, und privat
vom schmachtenden Minnesänger zum glücklichen Ehemann und Hausvater. Der
Autor lässt aber nie einen Zweifel daran, wie schwierig es auch sein
kann, seine Freiheit schöpferisch zu gebrauchen und wieviel Kraft und
Disziplin nötig ist, um seiner Lebensaufgabe gerecht zu werden, nämlich
der zu werden, der man ist.
Lange Zeit gehörte Goethe zum Lektürekanon deutscher und
österreichischer Schulen, und viele sich daran abarbeitende
Deutschlehrer vermiesten die Freude an der Lektüre, an der inhaltlichen
Auseinandersetzung, an der Beschäftigung mit dem Dichterfürsten und
seiner Zeit. Ich erinnere mich bestens an die Ödnis des Interpretierens
und an die Lächerlichkeit, mit der Goethes Werk anhand seiner
angebeteten Liebsten eingeteilt wurde. Später, in den studentenbewegten
Zeiten, war sein Manko, dass er einfach kein Revolutionär war, eher gar
ein Reaktionär, ein Fürstenlakai oder Ähnliches. Mangels Kenntnissen
wusste man ja nicht, dass Goethes politischer Pragmatismus gerade gegen
den gesinnungsstarken politischen Dilettantismus gerichtet ist, deren
Vertreter er abfällig die "Aufgeregten" nannte. Wir ahnten
nicht, welch eigenständiges, unabhängiges, selbstbestimmtes und äußerst
unkonventionelles Leben er führte.
Weder Poet noch Hofbeamter wollte er sein, sondern in aller
individueller Freiheit beide Lebensentwürfe in sich vereinigen. Er
gestaltete, ja konstruierte sein Leben zwischen Adel und Bürgertum,
keinem alleine verpflichtet, aber doch von beidem profitierend. Wobei
ihm natürlich die persönliche Freundschaft zur Fürstenfamilie von Weimar
die Grundlage für seine Freiheiten bot, sowohl materiell als auch
sozial. Es wurde ihm nachgesehen, dass er sich unangemeldet ein Sabbatical,
wie man heute sagen würde, in Italien genehmigte und eine
unstandesgemäße Liaison bzw. spätere Heirat einging. Er war der
Mittelpunkt, um den die Welt, seine kleine zumindest, kreiste. Nicht
weiter geht jedoch Safranski als Biograf darauf ein, welchen Preis dafür
die Anderen zahlten. Wie beispielsweise Christiane
Vulpius, die Unstandesgemäße, von der Weimarer Gesellschaft
geschnitten und verachtet. Oder der gemeinsame Sohn August,
dessen Lebensentwurf allein im Dienste des Vaters zu stehen hatte.
Ein Bekannter des jungen Goethe beschreibt ihn als einen merkwürdigen
Menschen, der in allem nur sich selbst lebt, dabei aber eine unbändige
Neugier auf die Welt hat, die er sich auf eigene Art aneignet. Hier
findet er auch einen Schlüssel für die Bewältigung aller persönlichen
Probleme. Aktivität, Arbeit, tätige Teilnahme am Leben. Nur so lassen
sich in seinen Augen Trauer, Tod und Schmerz ertragen. Er nannte es "sich
nach der eigenen Natur richten".
Für Safranski ist die Beschäftigung mit Goethe eine Chance, sich selbst
und die eigene Zeit besser zu verstehen bzw. an seinem Beispiel die
Möglichkeiten und Grenzen einer Lebenskunst zu erkunden. Was bleibt, ist
"der tröstliche Gedanke, daß ein solches Leben möglich war". Ein
weitgehend selbstbestimmtes, selbstgestaltetes, unkonventionelles Leben.
Ihm ist eine lesenswerte "moderne" Biografie gelungen - inklusive
Zeittafel, Personenregister, Werkregister und Literaturangaben -, die,
neben dem dichterischen Werk, seine persönliche Lebensgestaltung in den
Mittelpunkt stellt. Und die wohl helfen kann, unser schulisches
Goethe-Trauma aufzubrechen.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2013)
Rüdiger
Safranski: "Goethe. Kunstwerk des Lebens"
Hanser, 2013. 752 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Manfred Osten: "'Alles veloziferisch' oder Goethes Entdeckung der
Langsamkeit"
Im "Faust",
in den "Wahlverwandschaften" und im "West-östlichen Divan" hat Goethe
Themen aufgegriffen, die - so erstaunlich das klingen mag - zu den
brennendsten unserer Gegenwart zählen: die künstliche Erschaffung des
Menschen, die Globalisierung,
der immer schnellere technologische Fortschritt (das "Veloziferische")
und die Begegnung der Kulturen. In seinem Essay zeigt Manfred Osten
eindringlich, dass Goethes Antworten auf die Fragen seiner Zeit, mit
denen er zu einem Gespräch auffordert, noch immer aktuell sind.
(Wallstein)
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