Wilhelm Genazino: "Idyllen in der Halbnatur"
Melancholische Renitenz
Wilhelm Genazinos Figuren, vom famosen Abschaffel bis zu seinen
literarischen Supermarkt-Kassiererinnen, den Liebesblöden und den
Verweigerern, haben eine große Gemeinsamkeit: sie beobachten. Das tun
sie mit einer Akribie, die man selbst aus der so modischen
Befindlichkeitsprosa der jüngeren deutschsprachigen Literatur nicht
kennt.
"Die Welt ist voller Merkwürdigkeiten, man muss nur hinsehen."
Diese akribischen Beobachtungen widmen sich meist banalen, den meisten
anderen Autoren nicht einmal nennenswerten Objekten. Ein vergessener
Turnschuh, in der Nacht verloren, übrig geblieben am Straßenrand. Ein
Regenschirm, im Regen verloren. Ein Schnuller, dem Kind aus der Hand
geglitten, während die Mutter zielstrebig weitergeht, ohne den Verlust
zu bemerken.
Der unter Anderem mit dem "Kleist-Preis" und dem "Georg Büchner Preis"
ausgezeichnete Wilhelm Genazino lässt seine Figuren Vermutungen zu den
diversen Ereignissen anstellen, lässt sie wahrnehmen und treibt dadurch
seine im traditionellen Sinne handlungsarmen aber ungemein spannenden
Romane vorwärts. Jeder ist für sich ein Kunstwerk, eine Art
literarisches Stilleben, das durch die teilweise recht skurrilen
Grübeleien und Beobachtungen der nicht immer sympathischen Protagonisten
zum Leben erweckt wird.
"Idyllen in der Halbnatur" ist eine Sammlung von Prosastücken und
Essays, in denen sich Wilhelm Genazino mit den Ursprüngen, den
Ausgangspunkten seines Schaffens beschäftigt.
Er sinniert wortgewandt über die Bedeutung von verlorengegangenen
Schuhen und deren Bedeutung für die wahrnehmenden Passanten, über die
unterschiedlichen Empfindungen zu gebrauchten Schuhen und gebrauchten
Jacken oder Mänteln, das Tragen von Sandalen, bis er den Moment
schildert, als er dann doch mit eigenen Augen sieht, wie ein Schuh
(fast) verlorengeht. Ein Moment, der dem Autor als besonders schön in
Erinnerung bleibt. Er erklärt die Bruchbudenhaftigkeit des Schönen und
den Ungehorsam gegen die Tatsachen, während man glücklich lesend einen
Spaziergang des Autors rund um den Savigny-Platz verfolgt, bei dem es zu
einer nicht ausgesprochenen Zurückweisung des Autors durch einen
Buchhändler kommt.
Wilhelm Genazino beleuchtet auch seine Bamberger Vorlesungen. In diesen
Texten erklärt er beschaulich den Ausgangspunkt für seinen
wahrscheinlich bekanntesten Roman "Ein
Regenschirm für diesen Tag", in dem der Protagonist den Beruf des
Schuhtesters ausübt, ein Beruf, den die meisten Menschen, laut Wilhelm
Genazino, für eine Erfindung des Autors halten. Er erklärt die
Hintergründe und zeigt auf, was ihm besonders in diesem Roman wichtig
war.
Der Band enthält auch die interessante Dankrede zur Entgegennahme des
"Kleist-Preises", die sich natürlich weitgehend mit dem Schaffen von
Kleist beschäftigt.
Weitere Texte in diesem Band widmen sich Tagträumen und Sigmund
Freud, Kleist,
Kafka
und Strindberg, Trauer und Melancholie,
sowie dem Vorwort zu einer Peter Altenberg-Ausgabe.
"Idyllen in der Halbnatur" ist ein literarisch hochinteressanter Band,
der dazu einlädt, sich dem Schaffen dieses wichtigen deutschen Autors zu
widmen, der aber wahrscheinlich eher jene Leser befriedigen wird,
die bereits einige Romane Genazinos gelesen haben, die sich dem Werk des
Autors direkter nähern möchten. Nicht die Einsamkeit des Menschen
unserer Zeit steht im Mittelpunkt des Interesses Genazinos, sondern der
Zustand des Schwebens über dem Abgründigen. So vereint sich der Leser
mit dem Roman in der Isolation der Empfindung, im Widerstreit zwischen
allgemeiner und individueller Wahrheit.
Sehr empfehlenswert!
(Roland Freisitzer; 07/2013)
Wilhelm
Genazino: "Idyllen in der Halbnatur"
Carl Hanser Verlag, 2012. 393 Seiten.
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Zwei weitere Bücher des
Autors:
"Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands"
Wer Deutschland sehen will, fährt nach Berlin oder München, auch an den
Rhein. Aber liegt das wirkliche Deutschland nicht ganz woanders? Dort,
wo man keine Stadtrundfahrten macht? Vielleicht sogar in einer
Fußgängerunterführung in Frankfurt am Main? Wilhelm Genazino hat sich
auf den Weg gemacht, die unansehnliche, aber wirkliche Mitte
Deutschlands zu erkunden: Einkaufsstraßen und Vororte, Katzen in
Schaufenstern, nächtlich knabbernde Mäuse in der U-Bahn und
alkoholbedürftige Menschen an grauen Kiosken. Zugleich rekonstruiert er
voller Witz den eigenen Weg durch Frankfurt - als stiller Beobachter
einer gewöhnlichen Stadt, die exotischer ist als die Ferne, die
inzwischen jeder kennt. (Hanser)
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"Wenn
wir Tiere wären"
Alles ist da, Beruf, Wohnung,
Einkommen, Urlaub, Frau. Aber schon eins davon wäre manchmal weitaus
genug, und das wundervolle Alles ist mehr, als einer erträgt. Aber wie
befreit man sich vom Privatleben, wenn man nicht einmal die Arbeit
loswird? Das Leben ist hart und überfordert leicht den Stärksten. Die
moderne Welt verlangt zu viel: tägliche Anwesenheit am Arbeitsplatz,
inklusive Engagement und freundlichem Gesicht, die Benutzung von
Verkehrsmitteln und den Besuch von Supermärkten. Und dann auch noch
das Privatleben. Selbst wenn die Sache mehr oder weniger funktioniert,
selbst wenn er halbwegs erfolgreich ist, unausweichlich kommt der
Moment, da ein Mann nicht mehr weiterweiß.
Er ist langjähriger freier Mitarbeiter eines Architekturbüros und
langjähriger Freund von Maria. Doch als er eine feste Stelle antritt,
gerät das heikle Gleichgewicht ins Schwanken, und ehe er sich
versieht, sind es statt einer sogar drei Frauen. Ach, wenn wir Tiere
wären! Eine Ente im Park, ein freundlicher Hund auf dem Sofa! Ach,
wenn wir die täglichen Zumutungen doch einfach gelassen übersehen
könnten! Wilhelm Genazino erzählt von einer Gegenwart, die jeden
tagtäglich überfordert, und er erzählt von einem Mann, der dem Druck
nur widerstehen kann, indem er das ordentliche Regelwerk durchbricht.
Doch es kommt, wie es kommen muss: Der Betrug fliegt auf und der Mann
wandert ins Gefängnis. Leichter wird es dort auch nicht werden.
Ironisch, witzig und böse - Wilhelm Genazino ist auf der Höhe seiner
Kunst. (Hanser)
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Weitere Lektüretipps:
"Verstehensanfänge. Das
literarische Werk Wilhelm Genazinos"
Herausgegeben von Andrea Bartl und Friedhelm Marx.
Über das literarische und essayistische Gesamtwerk des
"Büchner"-Preisträgers Wilhelm Genazino.
Die Romane und Essays Wilhelm Genazinos fragen nach dem Handeln des
Einzelnen, aber auch nach den Bedingungen der modernen Arbeitswelt und
Ökonomie, nach Grenzen der Wahrnehmung, aber auch nach den Möglichkeiten
der Kunst. Antworten darauf geben seine Texte in Form von
"Verstehensanfängen", wie es in dem Roman "Ein Regenschirm für diesen
Tag" (2001) heißt. Erkenntnis bedeutet bei Genazino demnach eine
beständige, oszillierende Bewegung von Aufbruch und Scheitern,
Annäherung und Distanz. In allen Büchern Genazinos werden Grundthemen
der menschlichen Existenz verhandelt: Affekte wie Scham und Ekel, Liebe
und Sexualität, Kindheit
und Alter, Melancholie und der alltägliche Wahnsinn.
Literatur- und Kulturwissenschaftler verfolgen diese vielfältigen Spuren
durch das literarische und essayistische Gesamtwerk des Autors.
Wilhelm Genazino leitet den Band mit seinem Essay "Der Roman als
Delirium" ein und bezieht in einem abschließenden Gespräch mit Hubert
Spiegel Stellung zu seinem Schreiben und zu literaturwissenschaftlichen
Deutungsversuchen.
Mit Beiträgen von: Andrea Bartl, Hans-Peter Ecker, Wilhelm Genazino, Sven
Hanuschek, Iris Hermann, Alexander Honold, Oliver Jahraus, Annika
Klinge, Manuel Maldonado Alemán, Friedhelm Marx, Heiko Neumann, Dana
Pfeiferová, Anne Schmuck und Hubert Spiegel. (Wallstein Verlag)
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Roger
Willemsen: "Momentum"
"Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten."
Roger Willemsen
In diesem Buch setzt Roger Willemsen ein Leben ganz aus seinen Momenten
zusammen. Augenblicke von stimmungshafter Intensität stehen neben
bemerkenswerten Situationen, Dialoge neben Natur- oder
Kunstbetrachtungen, Gefahrenmomente neben Augenblicken der Liebe. Damit
ist "Momentum" nicht nur ein sehr persönliches Buch der Erinnerung,
sondern zugleich eine einzigartige Anleitung, die entscheidenden
Augenblicke unseres Lebens zu erkennen. Was sie eint, ist allein die
Prägnanz, mit der sie sich im Gedächtnis erhalten haben. Sind sie das
Glück? (S. Fischer)
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