Daniel Galera: "Flut"
Eine wunderbare Entdeckung
Man kann sich als Leser nur freuen, wenn die Frankfurter Buchmesse ein
Ehrengastland wie Brasilien
auswählt. Das bedeutet, dass fast alle Verlage im deutschsprachigen Raum
versuchen, den einen oder anderen literarischen Leckerbissen in
deutscher Erstübersetzung rechtzeitig zur Buchmesse herauszubringen.
Suhrkamp hat, neben Neuübersetzungen und Erstausgaben von Klassikern der
modernen brasilianischen Literatur, auch den Roman "Flut" des 1978
geborenen und in Porto Alegre lebenden Schriftstellers Daniel Galera als
wahre Überraschung herausgebracht. "Flut" ist der erste ins Deutsche
übersetzte Roman des Brasilianers, der bereits einige Preise und
Auszeichnungen für seine literarischen Werke erobern konnte.
Im ersten Kapitel trifft der Protagonist mit seinem Vater zusammen. Ein
Zusammentreffen, das für den Sportler starke Konsequenzen hat. Er
erfährt einiges über seinen Großvater, der vor vielen
Jahren in Garopaba verschwunden ist. Einerseits soll er ermordet worden
sein, andererseits gab es keine Zeugen. Eine Leiche gab es damals auch
nicht, und von der Polizei wurde die Sache ad acta gelegt. Er
erfährt auch von seiner Ähnlichkeit mit dem Großvater.
Und vom Plan des Vaters, am nächsten Tag Selbstmord zu begehen. Er
bittet den Sohn, sich um die Einschläferung seiner Hündin
Beta zu kümmern.
Der Sohn lässt die Hündin entgegen des Wunsches des Vaters nicht
einschläfern und zieht mit dem Hund selbst nach Garopaba, wo er sich
eine Wohnung direkt auf den Felsen am Meer mietet.
Er lernt schnell Menschen kennen, auch wenn sich das nicht leicht
gestaltet, da er an einer neurologischen Erkrankung leidet, die ihn die
Gesichter von Menschen vergessen lässt. Selbst sein eigenes Gesicht
vergisst er über Nacht, weshalb er ein Foto von sich in seiner Geldbörse
trägt.
Er bekommt eine Anstellung als Schwimmlehrer, findet Freunde und lernt
einige Frauen kennen, mit denen er unterschiedlich gewichtige
Beziehungen eingeht.
Da ihn die Geschichte des Großvaters nicht loslässt und ihn die
Reserviertheit der lokalen Bevölkerung misstrauisch stimmt, beginnt er,
nach dem alten Gaucho herumzufragen. Er spürt, dass fast jeder etwas
weiß aber niemand etwas zugeben will. So wird er rasch zum verrückten
Außenseiter, der mit seinem Hund im Meer schwimmt und überraschend
beliebt bei seinen Schwimmschülern ist, auch wenn er sich ihre Gesichter
nicht merken kann.
Je mehr er abgelehnt und bedroht wird und immer abstrusere Gerüchte die
Runde machen, desto stärker ist sein Drang, die Wahrheit über seinen
Großvater in Erfahrung zu bringen. Eine Suche nach der Wahrheit, die ihn
fast dasselbe Schicksal wie das seines Großvaters erleiden lässt.
Eine weitere Ebene ist die zerrüttete Beziehung zu seinem Bruder, über
deren Gründe man im Lauf des großartigen Romans sukzessive mehr erfährt,
bis es im letzten Kapitel zu einer tabula rasa kommt.
Mehr möchte der Rezensent nicht zur Handlung dieses ungemein spannenden
Romans verraten, da es viele Überraschungen und große Momente
vorwegnehmen würde, was äußerst schade wäre. Nichtsdestotrotz ist "Flut"
ein Roman, der nicht von seiner Handlungsebene lebt. Eine Ebene, die
sich, trotz der ständigen Spannung, eigentlich nur relativ langsam
entwickelt. Es ist die archaische Wucht, mit der diese literarische
Flutwelle über den Leser schwappt und ihn mit sich bis zu den letzten
Worten trägt, nach denen man traurig den Roman zuklappt und fast
wünscht, dass es noch ein paar hundert Seiten mehr gegeben hätte.
Die Personenzeichnung dieses durch kühle, fast distanziert wirkende
Prosa gezeichneten Romans ist kongenial gelungen und schenkt dem Leser
einige unvergessliche Figuren. Der nie beim Namen genannte und natürlich
im Mittelpunkt stehende Protagonist ist ein unvergleichliches Beispiel
eines kompromisslosen, genügsamen, hilfsbereiten, sich aufopfernden und
starken Mannes, der bereit ist, für die Gerechtigkeit bis zum Ende zu
gehen. Eine Protagonist, der fast altmodisch prinzipientreu ist, der,
obwohl ganz anders, die Intensität und Männlichkeit einiger Figuren von
Ernest
Hemingway erreicht, der ebenso ein brasilianischer, moderner
Halbbruder von Remarques Ravic sein könnte. Ein Protagonist, der sein
Leben riskiert, um seine Hündin zu retten und alles tut, um ihre Heilung
zu ermöglichen. Jemand, der alles verzeihen kann, außer Verrat. Dass er
auch Schwächen hat, macht ihn noch stärker.
Der ausgezeichnet übersetzte Roman "Flut" ist, ohne auch nur eine
Sekunde lang sentimental zu sein, ein emotional mitreißender Text, der
weit entfernt von der so modischen Befindlichkeitsprosa der jüngeren
Autoren ist. Ein Text, der darauf hoffen lässt, dass Suhrkamp auch die
anderen Romane des Brasilianers veröffentlichen wird. Ein Roman, dem man
wünscht, viele Leser zu finden. Sowie viele Leser, denen der Rezensent
wünscht, diesen Roman zu finden.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 08/2013)
Daniel
Galera: "Flut"
(Originaltitel "Barba ensopada de sangue")
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von
Nicolai von Schweder-Schreiner.
Suhrkamp, 2013. 423 Seiten.
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