Malte Herwig: "Die Flakhelfer"
Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden
Verdrängte oder
korrigierte Realität: die entwurzelte Generation der Flakhelfer
Es hat immer wieder für einen medialen Aufschrei gesorgt, wenn sich
herausstellte, dass bedeutende Persönlichkeit aus Politik und Kultur
Mitglieder der NSDAP, vielleicht gar der SS gewesen waren; gleichgültig,
ob diese Männer mit Nachweisen ihrer nationalsozialistischen
Vergangenheit konfrontiert wurden oder sich, was nur selten vorkam - als
Beispiel sei Günter
Grass genannt -, selbst enttarnten. Rasch wurden die Betroffenen
verurteilt und machten ein regelrechtes Spießrutenlaufen durch, was
andere Prominente mit demselben Fleck in der Biografie nicht gerade
ermutigte, offen mit ihrer eigenen Geschichte umzugehen.
Grass, Genscher, Walser,
Henze und viele Andere gehören zu den Angehörigen der
Flakhelfergeneration mit NSDAP-Parteibuch. Wie der Autor des hier
besprochenen Buchs aufzeigt, waren lange Zeit Bundestag und Landtage,
auch entsprechende Gremien der DDR mit einem recht hohen Anteil an
ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt. Die vom Autor gestellte Frage nach
den Hintergründen für diese Parteieintritte ist somit natürlich
spannend, denn wie verträgt sich das Amt eines Volksvertreters in einer
Demokratie mit der Mitgliedschaft in einer totalitären Partei?
Auf die Einleitung des Buchs folgt ein Abriss der Ereignisse nach
Kriegsende, als die Mitgliedskartei eigentlich vernichtet werden sollte,
jedoch in die Hände der us-amerikanischen Besatzer fiel und erst 1994
der Bundesrepublik übergeben wurde - nachdem diese, nicht die USA, über
viele Jahre die Rückgabe verzögert hatte. Herwig erläutert, dass seitens
der USA immer wieder Karteikarten wichtiger bundesdeutscher Politiker
aus dem Hauptarchiv entnommen und in einem gesonderten Safe verwahrt
wurden.
Das Buch befasst sich zudem damit, wie man seinerzeit in die Partei
aufgenommen wurde, denn dies war keineswegs selbstverständlich, wie der
Autor nachweist: Nur 15 Prozent der Bevölkerung besaßen ein Parteibuch,
und man konnte keineswegs ohne eigenes Wissen, ohne eigenhändige
Unterschrift aufgenommen werden, wie mancher später behauptete.
Ein paar Kurzbiografien veranschaulichen die Werdegänge der für die
Bundesrepublik bedeutsam gewordenen Flakhelfer, auch berichtet der Autor
von den massiven Problemen für betroffene Parteien, wenn ein Kandidat
für ein wichtiges Amt, wie Karl Carstens 1978, als ehemaliger
NSDAP-Angehöriger "enttarnt" wurde; er beschreibt aber ebenso, wie die
Stasi (MfS) in der DDR versuchte, an brisante Daten zu kommen.
Selbstverständlich erfährt der Leser auch, wie die US-Amerikaner selbst
mit dem Archiv umgingen. Und schließlich werden Entnazifizierung und der
Umgang mit dem schweren Erbe betrachtet.
Malte Herwig versucht eine objektive Darstellung der Fakten und
Zusammenhänge, ohne Anklage, die auf vorhandenen Daten sowie Gesprächen
mit einigen der Menschen basiert, um die es in seinem Buch geht. Die
Interviews zeigen, dass in vielen Fällen Scham wegen der erfolgten
Verführung durch die NS-Ideologie wesentlicher Grund für das beharrliche
Schweigen der damals ganz jungen Parteimitglieder war, eine Scham, die
so tief geht, dass Ausflüchte gesucht werden: man habe nie einen
Aufnahmeantrag unterschrieben, sei ohne sein Wissen aufgenommen worden;
was, wie bereits erwähnt, Herwigs Recherche zufolge nicht möglich war.
Der Autor verbindet die geschichtlichen Grundlagen - vom
endenden Dritten Reich bis zur Übergabe des Archivs an die
Bundesrepublik - mit persönlichen Biografien, sodass der Leser die
Möglichkeit erhält, das vielschichtige Thema aus mehreren Perspektiven
zu betrachten. Als Leser dieses Buches muss man bereit sein, zwischen
den kalten, neutralen Fakten und den Aussagen aus den durchaus
empathisch, doch sachlich geführten Interviews mit Betroffenen abzuwägen
und ein eigenes Urteil zu fällen, denn dies maßt sich Malte Herwig nicht
an.
Gleichwohl kommt nach Ansicht der Rezensentin die Motivation der jungen
Menschen zum Parteieintritt zu kurz: Wie genau der Einzelne in die Fänge
des Systems, der Partei gerät, lässt sich meist nicht nachvollziehen,
obwohl viele Menschen dieser Generation das durchaus reflektieren; es
fehlen die niemals professionell aufgearbeiteten Traumata, die jeder,
der als Jugendlicher Bombardierungen miterlebte, Flakhelfer war oder
junger Soldat, davongetragen hat, die Solidarität, die viele in diesen
Extremsituationen zum System aufbauten; die Prägung bereits in der
Schule etwa auf einen absurden Rassismus, deren sich viele Menschen
dieser Generation später, mit Jahren des Abstandes, aufrichtig schämen,
und vieles mehr, was diese jungen Menschen zu denen machte, die sie
waren - eben auch zu Parteimitgliedern, die sich aber nicht zuletzt
aufgrund dieser Erfahrungen umorientierten und zu echten, konstruktiven,
engagierten Demokraten wurden, anders als manch andere mit demselben
Hintergrund, die ihre "braune" Denkart lediglich aus Opportunismus
kaschierten. Diesbezüglich hätten gerade die Interviews tiefer gehen
können, statt erst beim bisweilen verleugneten Parteieintritt
anzusetzen.
Dieses Buch bietet ein bemerkenswert objektives Herangehen an das Thema,
ohne Verurteilung, ohne ins Apologetische abzudriften, es wartet mit
bislang wenig bekannten Fakten und Zusammenhängen auf, die in Verbindung
mit den individuellen Lebensgeschichten eine konstruktive und dabei
spannende Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Aspekt deutscher
Nachkriegsgeschichte ermöglichen.
(Regina Károlyi; 07/2013)
Malte Herwig: "Die Flakhelfer.
Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende
Demokraten wurden"
DVA, 2013. 320 Seiten.
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