Osman Engin: "Deutschland allein zu Haus"


Osman Engin hat seine ich-erzählende Figur Osman schon vor einiger Zeit geschaffen und diese in den letzten mehr als zehn Jahren durch das Funkhaus Europa, Kurzgeschichten und Romane reisen lassen, zusammen mit seiner Frau Eminamin und seinen sieben Kindern. Dieser andere Osman lebt und arbeitet in Bremen, ist Passdeutscher mit verdeckter doppelter Staatsbürgerschaft und einer ganz eigenen Sicht auf Deutschland, die Deutschen, die Türken in Deutschland, die Türkei, die Türken in der Türkei und die Deutschen in der Türkei - und auf viele andere Dinge.

Zu Beginn dieser Geschichte begibt er sich mit seiner Frau in die "alte Heimat", die er nun schon vor 40 Jahren verlassen hat und nur einmal im Jahr für einen Monat wieder besucht. Dort genießt er die Sonne, das Meer und auf Grund der vielen Türken an seinem Lieblingsbadestrand und der anstrengenden Verwandtschaft, den Gedanken, wieder zurück nach Deutschland fliegen zu können. Doch in diesem Jahr soll er seinen Onkel Ömer mitnehmen der mit seinen 70 Jahren noch nie aus seinem Dorf in Anatolien herausgekommen ist und vor seinem Tod einmal ein wenig von der Welt sehen möchte. Denn in diesem Dorf kommt die Welt nicht wirklich an.

Das erklärt auch, warum es eine kleine Ewigkeit dauert, bis Osman und Eminamin mitbekommen, dass bei einer Wahl in Deutschland, an der die Familie per Briefwahl teilgenommen hat, wegen sehr geringer Wahlbeteiligung die NEP - eine Vereinigung aller rechter Parteien der Republik - die zweitmeisten Stimmen nach der CDU (in Bremen nach der SPD) erzielt haben und damit auf einmal sehr großen Einfluss auf das weitere Geschehen in Deutschland nehmen können. Ungläubig - und auch unwillig, seinem Onkel diese neue Situation zu erläutern - fliegt die Familie wie geplant zurück und wird bereits am Flughafen in eher unangenehmer Art und Weise begrüßt, wenn auch nicht, wie erwartet von den Sicherheitskräften.

Osman und seine schon lange in Deutschland lebende Familie sehen sich einem sich immer mehr ins Negative verändernden Deutschland gegenüber, das sie zugleich vor Onkel Ömer zu verbergen suchen, der sich in seiner dörflich-fröhlichen und gewinnorientierten Art daran macht, einige der Vorurteile, die Faschisten gegen südländisch aussehende Menschen haben, zu bestätigen, weswegen ihn Osman schon bald einmal auf einer Polizeiwache abholen muss. Was zunächst noch eher fantastisch erscheint - und durch Osmans Erzählstil immer auf sicherer Distanz bleibt - rückt einem beim Lesen nach und nach näher, und man fragt sich bei jeder neuen Wendung, wie weit die Regierenden die NEP in ihrem Treiben noch gehen lassen werden. Und wie weit sie selbst mitgehen.

Es gibt anständige Deutsche in diesem zunehmend bedenklichen Szenario, und diese lassen den deutschen Leser immer wieder beim Lesen aufatmen. Aber es gibt auch berechtigte weiterführende Fragen: Wie geht man gegen geringe Wahlbeteiligungen vor? Wie wichtig sind Schrebergartenregeln? Wie würde ein Deutschland, das seine missliebigen Immigranten hinauswirft - und damit auch die anderen vertreibt - nach einer Woche oder nach einem Monat aussehen? Wer bedient in den Restaurants? Wer fährt die Busse? Putzt die Krankenhausflure? Übernimmt für den pakistanischen Gehirnchirurgen? Und Ähnliches.

Auf Grund des ernsten Themas ist für einen Erstleser Osman Engins die hausinterne Kriegsführung zwischen Osman und seiner Frau wahrscheinlich manchmal ein wenig zu weit ausgefalzt, was sich für Anhänger natürlich anders darstellen dürfte. Insgesamt ist "Deutschland allein zu Haus" mit seinem Szenario und dessen Behandlung sowie dem alltäglichen Wahnsinn in Osmans Leben ein humorvolles, aber auch satirisch durchaus scharfes Buch, das vor den nächsten Wahl jeder, der meint, er könne am Wahltag nicht ein wenig Zeit frei machen für den Besuch eines Wahllokals - ein Privileg, für das sich Leute in anderen Ländern angreifen, schwer verletzen oder umbringen lassen und dessen Nichtnutzung in manchen europäischen Ländern mit einer Geldstrafe geahndet wird - in die Hand nehmen sollte, um dann darüber zu reflektieren, was genau seine demokratische Verantwortung ist.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 06/2013)


Osman Engin: "Deutschland allein zu Haus"
dtv, 2013. 255 Seiten.
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Osman Engin, 1960 in der Türkei geboren, lebt seit 1973 in Deutschland. Nach seinem Studium der Sozialpädagogik in Bremen wurde er freier Schriftsteller.