Michel Onfray: "Im Namen der Freiheit"
Leben und Philosophie des Albert Camus
Eine beeindruckende
Monografie zu Albert Camus
Michel Onfray ist ein streitbarer Geist und als solcher in Frankreich
keineswegs unumstritten. Doch darin ist er Albert Camus nicht unähnlich.
Bereits 2012, also ein Jahr vor dem hundertsten Geburtstag Camus',
erschien Onfrays Monografie auf dem französischen Markt. Wenn man neben
dem Geburtsjahr und dem Todesjahr ein weiteres Ereignis suchte, auf das
sich ein runder Jahrestag zum Gedenken Camus' beziehen könnte, so wäre
2012 als 50. Jahrestag des Endes des französischen, etwas euphemistisch
formuliert, "Algerienabenteuers" sicherlich erste Wahl. Da hätten wir
wieder den Camus: Quer zu allen gesellschaftlichen Strömungen. In diesem
Sinne wird man sich keinen engagierteren Mahner und Streiter Camusschen
Wirkens und Denkens vorstellen als Michel Onfray.
Der 1913 in der algerischen Campagne geboren Camus wuchs unter ärmlichen
und familiär trostlosen Verhältnissen in Algier auf. Durch den Einsatz
eines Lehrers, der das Potenzial dieses Jungen entdeckte, entkam er über
den schulischen und universitären Weg dem Elend und schwebte sogar eine
Zeitlang mittels der Aufwinde der Jugend und der Unbeschwertheit in den
moderaten Höhen der lokalen Schickeria umher. Doch Camus beendete den
Höhenflug recht schnell und blieb Zeit seines Lebens auf dem Boden und
beschwor sogar das Ideal der Einfachheit. Diese Einstellung bildete die
erste Säule, auf der Camus' Leben und Werk weiterhin ruhen sollten.
Hierbei verklärte er Algerien auch weitgehend, die Sonne, das Meer, die
Einfachheit des Lebens, das Multiethnische. Algerien wird gar zu einer
Metapher, zum Gegensatz des urbanen, intellektuellen und in jeglichem
Sinne kalten Paris.
Camus, so Onfray, "widerstand der Vergiftung des Denkens durch
Himmlisches und Verkopftes" der universitären Gelehrtheit. Er
wollte schreiben, um gelesen und verstanden zu werden und um beim Leben
zu helfen, schreibt Onfray in der Einleitung. Hiermit stand er im
Gegensatz zu den Gelehrten, die es vorzogen, von ihren "eigenen
Stammeszugehörigen kommentiert und verunklart zu werden". An einer
anderen Stelle formuliert das Onfray so: "Doch in der Welt zu leben,
um eine bessere Welt zu erdenken, ist besser, als die Welt zu denken,
ohne in ihr zu leben." Wie wahr.
"Camus steht in der französischen Tradition der
Existentialphilosophie, keineswegs aber des Existentialismus."
Letztere weist Onfray Sartre zu. Dieser wird gründlich als der größte
Gegner Camus' präsentiert, verantwortlich für die Legenden und falschen
Fährten, die Sartre nach dessen Tod legte.
"Dieses Buch", so Onfray am Ende der Einleitung, "will die
Legende dekonstruieren und sich der wahren Geschichte eines
bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts zuwenden." Es geht
dem Autor jedoch nicht nur um die Dekonstruktion dieser Camusschen
Legende, er dekonstruiert Sartres eigene Legende(n) in der Zeit der
Besatzung durch die Nazis. Die Titel und Beschreibungen, die der Autor
für Sartre bereithält, sind gelegentlich recht emotional und in
deutschsprachigen Monografien unüblich. Sartre, ein Hundeführer der
Meute, die auf Camus losging, und die schreibende Zunft in
Saint-Germain-des-Prés wird gar zu Papiergangstern, zu den "üblichen
Schwaflern". Onfrays Sartre-Kritik ist sehr offen, sehr deutlich
und gar nicht zimperlich, doch man kann ihm in der Tendenz sicherlich
zustimmen.
Wie lässt sich Camus ideengeschichtlich verorten? Dieser nicht ganz
einfachen Aufgabe widmen sich weite Teile des Buches, ohne zu einer
griffigen Formulierung zu kommen. Vielleicht lässt er sich damit
beschreiben: Ein libertärer, säkular-humanistischer, föderalistischer
Sozialist, grundiert mit einer Schicht Syndikalismus. Hierbei muss man
libertär eher im Sinne von selbstbestimmt und eigenverantwortlich als
anarchistisch konnotiert sehen, aber frei von einer anarchischen - im
Sinne von herrschaftsfrei - Grundhaltung war er sicherlich nicht. An
einer Stelle charakterisiert ihn Onfray als "ein allen Ideologien
gegenüber extrem misstrauischer Anarcho-Syndikalist", später heißt
es, er sei antikolonialistisch, antinationalistisch und mit einem
ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ausgestattet. Da Camus ohnehin wenig mit
allzu abstrakten Begriffen anfangen konnte, hätte er sich vielleicht
über solche Klimmzüge bei seiner Einordnung in ideelle Kategorien
amüsiert.
Camus ist der Phänotyp des Dichterphilosophen, der - ganz im Gegensatz
zum universitären Kathederphilosophen - seine Philosophie lebt und auch
aus der Mitte seines Lebens und Denkens entwickelt. Das Begriffspaar des
Dionysischen und Apollinischen drängt sich geradezu auf und durchzieht
das Buch auch weitgehend. Diesem Wertepaar folgen Hellas und Rom, Europa
und der Maghreb, der Protestantismus und (in Grenzen) der Katholizismus,
Hegel
und Nietzsche, der russische und der mediterrane Kommunismus, Worte -
Begriffe - Ideen versus Empfindungen - Gefühle - Wahrnehmungen.
"Der Dichterphilosoph denkt und arbeitet nicht wie ein Professor",
schreibt Onfray, "sondern wie ein Dichter. Er steht nicht im Dienste
derer, die Geschichte machen, sondern jener, die sie erleiden. Noch
einmal tritt hier der Unterschied zwischen dem machtaffinen Sartre und
dem libertären Camus zutage." Wenn es gegen Sartre geht, lässt er
keine Gelegenheit aus.
Die Distanz zur Kathederphilosophie mit ihrem, wie es an anderer Stelle
heißt, obskurantistischen Wissenschaftsgeschwafel scheint auch Michel
Onfray eigen zu sein. Als er es sich leisten konnte, schied er aus dem
Schuldienst und gründete die Université populaire de Caen, wo er in
einem mehrjährigen Studiengang die Geschichte der Philosophie lehrt.
Die 1951 erschiene Schrift "Der Mensch in der Revolte" kann als Camus'
theoretisches Hauptwerk bezeichnet werden. Er entwarf darin eine
moderne, humane Gesellschaft, nicht ohne vorher die menschenverachtenden
theoretischen wie praktischen Modelle zu verwerfen. Dass er hierbei
sogar Marx gegen den Bolschewismus ins Feld führt, schmeckte den Pariser
Salonbolschewisten natürlich nicht, von den russischen ganz zu
schweigen. Es wäre sicherlich ein außergewöhnliches intellektuelles
Vergnügen gewesen, die Altersfassung dieser Gedanken lesen zu können,
doch die Absurdität eines schrecklichen Autounfalls im Dasein raubte
Camus das Leben und verhinderte sicherlich manch brillanten politischen
Gedanken.
Der Gedanke des Absurden ist im Übrigen viel diskutiert und
interpretiert worden. Das Leben ist wegen der Abwesenheit aller
immanenten teleologischen Mechanismen den Zufällen schutzlos
ausgeliefert. Der erfüllte Mensch lernt sich damit abzufinden, den
Feiglingen, um es ein wenig überspitzt zu formulieren, steht der aus
Verzweiflung genährte Selbstmord zur Verfügung oder der Sprung in die
Transzendenz. Erst vor diesem Hintergrund kommt der Einleitungssatz aus
dem Sisyphos zur Geltung: "Es gibt nur ein wirklich ernstes
philosophisches Problem: den Selbstmord." Alles Andere, ob sich
die Erde um die Sonne dreht oder umgekehrt, sei sekundär.
Onfrays Monografie zusammenzufassen, ist kein leichtes Unterfangen,
ebenso wenig wie das zugrundeliegende Wesen Camus'. Doch dürfte es
kommenden Autoren schwerfallen, Camus umfassender zu präsentieren und
zugleich breiter in der insbesondere französischen Geisteswelt zu
verankern. Auch die vielfältigen Verbindungen zu Nietzsche
treten deutlich zutage. Viele konzise und kluge Ausflüge runden dieses
Werk ab, wie etwa eine treffliche Sektion des Marxismus, der ja nur am
Rande mit dem vielfältigen Kommunismus zu tun hat. Wenn man über die
dauernden Philippiken gegen Sartre, Beauvoir et Cie. hinwegsehen kann,
hat man es mit einem einzigartigen geistesgeschichtlichen Feuerwerk zu
tun, das noch lange Zeit nachleuchtet. Onfrays Synopsen der Camusschen
Erzählungen zeugen von einem tiefen Verständnis Camus' und einer
ausgereiften Formulierungskunst.
Und damit sind wir bei der Übersetzerin Stephanie Singh, der man zu
diesem wirklich grandiosen Text gratulieren muss. Es gelang ihr ein
flüssig zu lesender, anspruchsvoller und, wie es scheint, fehlerfreier
Text. Dass der Rezensent bei rund 550 Seiten Texts nichts, absolut
nichts zu anzumerken hatte, kommt ausgesprochen selten vor. Chapeau!
Dass aber Rezensenten am Ende doch immer etwas zu bemängeln haben,
scheint ja naturgesetzlichen Charakter zu haben. So denn: Marx
wird an einer Stelle zum
"Ehemann einer Gräfin", doch Jenny Marx war eine Baronin von
Westphalen. Eine weitere Kleinigkeit fiel auf. Onfrays Aussage zu Camus'
inzwischen vergriffener Erstveröffentlichung "L'envers et l'endroit" aus
dem Jahre 2012 wurde anscheinend ungeprüft übersetzt, denn heute gilt
diese Aussage weder für die französische Ausgabe, die u.A. im Mai 2013
neu aufgelegt wurde, noch für die deutschsprachige Ausgabe "Licht und
Schatten", die seit 1997 in "Kleine Prosa" aus dem Rowohlt-Verlag
enthalten und verfügbar ist.
Man vermisst den Anmerkungsapparat, um Zitate und Kommentierungen im
Camusschen Original nachlesen zu können. Nur in Ausnahmefällen
findet sich eine Quellenangabe im Text, die dann in Klammern steht. Doch
das muss man wohl auch relativieren, denn ein englischer Historiker
bemerkte vor ein paar Jahren, außer den Deutschen erwarte niemand bei
Biografien Quellenangaben oder Anmerkungen.
Dennoch: Eine deutliche Leseempfehlung!
(Klaus Prinz; 09/2013)
Michel Onfray: "Im Namen der Freiheit.
Leben und Philosophie des Albert Camus"
(Originaltitel " L'Ordre libertaire. La vie philosophique d'Albert
Camus")
Aus dem Französischen von Stephanie Singh.
Knaus, 2013. 573 Seiten.
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Der Philosoph Michel Onfray, geboren 1959
in Argentan/Frankreich, gründete 2002 in Caen die "Université Populaire",
eine Art Volksuniversität, zu der jedermann Zutritt hat. Jährlich besuchen
Tausende Zuhörer seine Vorlesungen. Mit seiner Absage an alle Religionen
und dem Plädoyer für ein freies, vernunftbestimmtes Leben entfachte er
eine leidenschaftlich und kontrovers geführte Debatte. Er verfasste mehr
als 50 Bücher, die in über 25 Ländern übersetzt wurden, unter anderem
"Traité d'athéologie" (Dt: "Wir brauchen keinen Gott") und eine
mehrbändige Gegen-Geschichte der Philosophie.
Weitere Buchtipps:
Iris Radisch: "Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biografie"
Ein Mann, der zum Mörder wird, weil ihn die Sonne blendet - bis heute ist
"Der
Fremde" eine der berühmtesten literarischen Figuren der Welt. Albert
Camus, sein Schöpfer, ist der Philosoph des Absurden, in das der Mensch
hineingestellt ist, der Denker der Revolte, die den Menschen ausmacht -
und immer der Anwalt der Einfachheit, die dem Algerienfranzosen das
Grundgegebene unter der Sonne und zugleich das am stärksten Gefährdete
war.
"Aktueller denn je", lautet der Befund von Iris Radisch, einer der
führenden deutschsprachigen Literaturkritikerinnen, die uns aus Anlass
seines 100. Geburtstages auf eine faszinierende Reise mitnimmt: von
Belcourt, dem ärmlichen Viertel Algiers, in dem Camus mit einer stummen
Mutter aufwächst, in das graue Paris, das unter deutscher Besatzung die
Moral der jungen Existenzialisten herausfordert. Vom konkurrierenden
Großbürger Sartre
als
"algerischer Gassenjunge" abgetan, ist Camus, der erklärte
Antifaschist, Antikommunist und Europäer, selbst ein Fremder - und
hellsichtiger als alle.
Emphatisch vermittelt uns Iris Radisch diesen von karger mittelmeerischer
Landschaft geprägten Mann in allen seinen Lebenskämpfen, als Liebhaber der
Frauen und eines Denkens, das sich engagiert. (Rowohlt)
zur Rezension ...
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Martin Meyer:
"Albert Camus. Die Freiheit leben"
Als Albert Camus 1913 in der Nähe von Algier zur Welt kam, deutete
nichts darauf hin, dass er eines Tages von Frankreich aus das
Lebensgefühl einer ganzen Generation prägen sollte. Seine Romane und
Dramen, seine Essays zur Philosophie und zur Politik handeln von den
großen Fragen der menschlichen Existenz: Freiheit,
Schuld, Verantwortung. "Die Pest" und "Der Fremde", "Der Mythos des
Sisyphos" und "Der Mensch in der Revolte" faszinieren daher ebenso
heutige Leser. Für Martin Meyer ist Camus einer der wichtigsten Autoren
des 20. Jahrhunderts überhaupt. Sein Buch erklärt Camus' Werk und stellt
es in den Zusammenhang seiner Zeit. Zum 100. Geburtstag gilt es Camus
als großen Zeitgenossen zu entdecken. (Hanser) zur
Rezension ...
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