Antonia S. Byatt: "Ragnarök"
Das Schicksal der Götter
Die Götter und der Krieg
Antonia S. Byatts Prosatext ist Teil der "Mythenserie" des britischen
Verlags Canongate Books. Die Verlagsleitung hatte die Idee,
wichtige Autoren um Beiträge zu bitten, und die meisten sind dieser
Bitte gern nachgekommen. Unter Anderen David Grossmann, Margaret
Atwood, Viktor
Pelewin, Jeanette Winterson, Su Tong, Dubravka
Ugrešić, Olga
Tokarczuk, Ali
Smith und Klas Östergren, der sich interessanterweise für
denselben Mythos wie Antonia S. Byatt entschieden hat.
Aus der nordischen Mythologie, in der "Edda"
enthalten, steht "Ragnarök" mehr oder weniger für den Weltuntergang und
besteht aus einer Schicksalsschlacht, in der Riesen und Götter einander
töten, die Erde im Meer versinken lassen und die Welt so in den Zustand
des Ur-Chaos zurückstoßen.
Eine Sage, die bereits Richard Wagner zu seiner großartigen Oper
"Götterdämmerung" inspiriert hat.
Um ihre Parabel über die Selbstzerstörung der Menschheit eigenständig
umzusetzen, kombiniert die Autorin die mythologische Geschichte mit der
Geschichte eines jungen Mädchens zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, das
parallel zur Kriegserfahrung besonderes Interesse am Lesen und Verstehen
diverser Mythen zeigt.
Während sie die "Ragnarök"-Sage liest, zieht sie Parallelen zwischen dem
aktuellen Geschehen und dem im Mythos.
Das kleine, etwas kränkliche Mädchen, das während des Kriegs mit seiner
Mutter in den Norden Englands evakuiert wird, dessen Vater in Afrika bei
der britischen Luftwaffe dient, ist natürlich eine höchstwahrscheinlich
recht autobiografisch konzipierte Protagonistin.
Vermeintlich weit weg vom Krieg, im ländlichen England, stürzt sie sich
in eine Nacherzählung der grausigen Geschichte "Ragnarök", die ihr in
Anbetracht der Geschehnisse viel plausibler erscheinen, als die in der
Sonntagsschule gehörten, frommen Bibelgeschichten, mit all den Schafen
und Engeln. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was denn die einen
Germanen von denen unterscheidet, die daran schuld sind, dass sie mit
ihrer Mutter evakuiert werden musste.
Während Odin, Fryr und Thor sich im Kampf mit den Riesen gegenseitig
ausschalten und der Fenriswolf Sonne und Mond verschlingt, das Wasser
die riesige Midgardschlange ausspuckt, wird die Erde vom vergifteten
Meer überflutet, und das Leben auf der Erde erlischt. Doch das ist eine
Art Tabula Rasa, die es der Erde erlaubt, einen Neuanfang zu schaffen.
Die 1936 geborene Antonia S. Byatt, Grande Dame der britischen
Literatur, "Booker"-Preisträgerin 1990 ("Besessen") und 1999 von der
Königin in den Adelstand erhoben, ist eine großartige Schriftstellerin,
deren Werke von profunder Bildung, präzisen Recherchen und großartigem
Stilgefühl gekennzeichnet sind: Qualitäten, die in Kombination mit einer
ungeheuren Gabe der Handlungsentwicklung meist großartige Romane
hervorbringen.
"Ragnarök" regt den Leser zum Nachdenken an, trägt den Keim vieler
ausgezeichneter Ideen in sich, scheitert aber, trotz ausgezeichneter
Prosa und einer stringenten Geschichte, irgendwie am Ende ein wenig eben
genau an der vermeintlich ausgezeichneten Idee, die Mythologie mit einer
autobiografischen Erzählung zu koppeln.
(Roland Freisitzer; 02/2013)
Antonia S. Byatt: "Ragnarök. Das Schicksal
der Götter"
(Originaltitel "Ragnarok. The End of the Gods")
Übersetzt von Susanne Röckel.
Berlin Verlag, 2012. 173 Seiten.
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Antonia S. Byatt starb am 16. November 2023 in London.
Ein weiteres
Buch der Autorin:
"Das Buch der Kinder"
A.S. Byatt umspannt in ihrem opulenten Roman ein Vierteljahrhundert, die
Jahre von 1895 bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg.
Im Süden Englands, in London, Paris und im zügellosen Schwabing suchen
die Familien Wellwood, Fludd und Cairn am Ende des 19. Jahrhunderts ein
freieres und erfüllteres Leben, sie proben neue Wege in Kunst und Politik,
Liebe und Erziehung.
Immer mit dabei sind die vielen Kinder, die sich mit ihren
unterschiedlichen Talenten und Temperamenten einen Weg durch die
Lebensexperimente ihrer Eltern bahnen. Aber alle Familien, auch die
fortschrittlichsten, haben ihre dunklen Geheimnisse
- am Ende drohen Enttäuschung, Verrat und der große Krieg.
"Das Buch der Kinder" schlägt einen weiten Bogen von England bis nach
Deutschland und berührt dabei immer wieder im Kleinen, in den intimen
Momenten, die ein jedes Leben unverwechselbar machen. (S. Fischer)
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