Hermann Kurzke: "Georg Büchner"

Geschichte eines Genies


Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Die Präsenz Büchners ist heute mehr in dem nach ihm benannten Preis zu suchen als in Werk und Wirken seines Namensgebers. Zu Recht? Sein überschaubares Werk teilt sich die Literatur zudem auch noch mit der revolutionären Publizistik. Beides kennen wir intensiver, routinierter und ausgereifter, was angesichts des frühen Ende Büchners mit 23 Jahren nicht verwundert. Doch die Fragen, die bereits eine oberflächliche Beschäftigung mit Büchner zutage fördert, verlangen im 200. Geburtsjahr nach kompetenten Antworten. Und so trifft es sich gut, dass ein emeritierter Literaturwissenschaftler sich in eine umfassende Monografie stürzte, die uns nun vorliegt.

Ohne Vorwort steigt Hermann Kurzke gleich ein und präsentiert den 1835 ausgestellten Steckbrief Georg Büchners, der wegen indicierter "Theilnahme an staatsverräterischen Handlungen" gesucht wurde. Dieses erste Kapitel liest sich wie eine ideengeschichtliche Einordnung Büchners mit biografischer Wurzelsuche. So wird das Naheliegende ausgesprochen: "Daß Büchner aus der Bahn geworfen wurde, ist eine der Vorbedingungen seiner Genialität." Seinen Schreibdrang sieht Kurzke in Büchners Davongekommensein begründet, ganz im Gegensatz zu seinen einstigen revolutionären Gefährten Minnigerode und Weidig. Deren Schicksal nimmt breiten Raum ein, denn diese Schilderung erlaubt dem Autor eine tiefe Einsicht in die Verhältnisse und bietet Gelegenheit, Büchners Angst und seine Flucht auszuarbeiten. Treffend schreibt Kurzke, dass die Thesen Büchners und seiner Gefährten diesen heute keine Festungshaft mehr eingebracht hätten, sondern eher zu einer Einladung in eine Talkshow verholfen hätten.

Büchners Leben und Denken ist nur lückenhaft bekannt, aber, so der Autor, wenn man sein Werk als Essenz seines Denkens ansieht, offenbart sich der ganze Mensch. Diese "autobiographischen Elemente", so der Klappentext, "wurden bisher unterschätzt". Es ist sicherlich richtig, dass ein geducktes Leben eines jungen Mannes auf der Flucht sich auch in der Literatur niederschlagen muss. Auch wenn Büchners Danton ganz im Gegensatz zu Büchner selbst der verweigerten Flucht wegen den Tod findet, so haftet beiden das Gesuchtsein an. Büchner weiß aus eigener Erfahrung, wie sich das anfühlt. So ist es durchaus legitim, in Büchners Danton den Büchner selbst zu suchen. "Danton's Tod", so schreibt Hermann Kurzke, "ist kein Anfängerstück. Es ist vielmehr vollkommen und aus einem Guß, fertig entsprungen wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus." Und weiter. "Die Panik [vor der Verhaftung, K.P.] hat die Persönlichkeitsentwicklung pistolenschußartig beschleunigt. Sie hat die letzten Hindernisse der Ichfindung beiseitegeräumt. Denn mit dem Revolutionsdrama ist dieses Ich plötzlich ganz da. Danton’s Tod zeigt nichts Erlerntes und Erlesenes, nichts Gewolltes und Geklügeltes, sondern die rauschende Geburt eines Genies, das seinen Stil gefunden hat."

Die Zeit nach dem politischen Ende Napoleons war von einer gewissen Widersprüchlichkeit und Resignation gekennzeichnet. Auch wenn Napoleon ein Despot war, so verband man mit seinem Auftritt auch einen gewissen Aufbruch, der natürlich in der Französischen Revolution begründet lag. Seine vielfältigen Reformen gaben Hoffnung. Doch der Krieg traf am Ende in erster Linie die, die er immer trifft: Die Bevölkerung. Und so verband sich mit der Völkerschlacht wieder eine Aufbruchsstimmung, die nicht eingelöst wurde. Denn die Restauration schickte sich an, die zweieinhalb revolutionären und postrevolutionären Dekaden zu ignorieren und den Spätfeudalismus des 18. Jahrhunderts zu restituieren. Der Autor schreibt treffend: "Die gebrochenen Versprechen und nicht erfüllten Hoffnungen erzeugten vielfältige und widersprüchliche Emotionen: Melancholie und Weltschmerz, Reichs- und Revolutionsromantik, Andreas Hofer- und Luisenverehrung, Hohn und Zynismus, Rachegelüste, Aufsässigkeit und Trotz. Zusammen bildeten sie die emotionale Kriegskasse, aus der sich die Oppositionsbewegung der Vormärzzeit bediente. Georg Büchner war wie Heinrich Heine 'ein braver Soldat im Befreiungskrieg der Menschheit'. Von der Völkerschlacht zum Hessischen Landboten verläuft eine gar nicht so schmale Linie."

Den Verfasser des Hessischen Landboten mit einem Aufruf "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" verortet Kurzke aber nicht als linksradikalen Frühsozialisten, sondern als bürgerlichen Oppositionellen. Denn seiner abstrakten Gewaltrhetorik folgten keine konkreten Aufforderungen. "Nach einem konkreten 'Zu den Waffen!' sucht man in der berühmten Brandfackel vergebens." Der Hessische Landbote ist übrigens in einer auf eine Rückredaktion zurückgehenden Version im Buch enthalten. Die rechtlichen und steuerlichen Zustände, die Büchner und Cie. bekämpften, waren in der Tat skandalös. Doch die Steuerbefreiung des Hochadels und der Nomenklatura in Verwaltung und Militär waren in Zeit und Ort durchaus als normal anzusehen.

Als ihn sein aufwieglerisches Gebaren in arge Bedrängnis brachte, betrieb er seine wissenschaftliche Ausbildung mit Nachdruck. Seinen inneren Konflikten bot er literarische Entfaltungsmöglichkeiten. Eine Erzählung entstand, ein Drama, ein Lustspiel und ein Dramenfragment, zwei Übersetzungen aus dem Französischen waren eher der klammen Haushaltskasse geschuldet.

Büchners Erzählung "Lenz" wird vom Autor wohlwollend betrachtet und mit Büchners Biografie verwoben. Doch nicht jedem erscheint diese Erzählung ohne den Hintergrund Goethe-Lenz-Büchner tragfähig. Die Komödie "Leonce und Lena" entwickelt ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit, indem sie die tradierte Ständeklausel des Theaters durchbricht. Natürlich projiziert Kurzke die Komödie auf Büchner zurück, als gegen Gesellschaft, Elternhaus und Verlobte gerichtete Ausbruchsmetapher. Denkt man diesen Hintergrund nicht mit, so kann das Absurde, Unernsthafte das eigentliche Werk leicht verdecken. Literatur mit absurden Elementen variiert die Grenze zwischen realitätsverhafteter und absurder Handlung. Der Leser muss diese Grenze stets im Auge behalten, um sein Interpretationsmuster anzupassen. Schon Schillers Jungfrau spielte mit diesen Elementen und stellte den Leser auf eine harte Probe.

Wäre Büchner der Spagat zwischen Wissenschaft und Kunst auf Dauer geglückt? Kurzke schreibt hierzu: "Als vergleichender Anatom beginnt er ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Seine philosophischen Vorlesungen sind ganz und gar ohne den Witz, mit dem Leonce und Valerio das Leben verspotten. Büchner schreibt ein romantisches Lustspiel, während er gleichzeitig daran arbeitet, ein Philister zu werden. Da ist ein Widerspruch. Eines von beiden ist ihm nicht ernst. So daß wir um die Erkenntnis nicht herumkommen, daß er als Person widersprüchlich war." Weiter heißt es: "Wäre er älter geworden, dann wäre der Widerspruch zwischen einer gutbezahlten Akademikerkarriere und der literarischen Taugenichtspropaganda unhaltbar geworden. Er hätte sich entscheiden müssen zwischen Boheme und Bürgerlichkeit. Als Student konnte er noch gut beides miteinander vereinbaren."

"Woyzeck" wiederum ist ein literaturwissenschaftliches Forschungsgelände par excellence, da die Quellen aus mehreren nicht kompatiblen Fragmenten bestehen, sodass, wie Kurzke schreibt, es sich Woyzeck-Ausgaben stets um Herausgeberkonstrukte handelt: "Einen Woyzeck von Büchner gibt es nicht." Man kann sich nun unschwer vorstellen, dass der Autor sich genüsslich in dieses prima vista aussichtslose Unterfangen stürzt.

Kurzkes Fazit: "Wir haben die Festung mit allen Mitteln berannt, aber sie nicht nehmen können." Doch es fällt dem Leser gelegentlich der Titel einer frühen cusanischen Schrift ein, wobei der Autor die apologia passenderweise auch gleich mitliefert.

Hermann Kurzke ist Literaturwissenschaftler und als solcher auch der historischen Wahrheit verpflichtet, aber nicht nur. Und so extrapoliert er gelegentlich den Büchner und lässt ihn beispielsweise im November 1936 in seinem Züricher Domizil um ein paar authentische Briefzitate herum sinnieren und fabulieren. In Liebesdingen wendet der Autor ein bewährtes literaturwissenschaftliches Verfahren an, indem er die bekannten Bezüge zwischen Leben und Werk anderer Autoren auf Büchner überträgt. Der Problematik dieses Vorgehens ist sich der Autor bewusst, aber man erhält immerhin einen Büchner, der sich an sein Werk bündig anschließt. Seine vielfältigen Werkbezüge zu Liebe und Sexualität lassen sicher darauf schließen, dass diese Themen eine große Bedeutung besessen haben müssen und dass zwischen seiner fiancée permanente Wilhelmine "Minna" Jaeglé und seinen innersten Vorstellungen eine Menge Luft war. Doch die ersten handgreiflichen Zärtlichkeiten hätten keines hypothetischen Szenariums bedurft - so viel Imagination bringt der Leser wohl mit.

Kurzkes Büchner-Monografie ist ein glänzendes Stück biografischer Kunst, versehen mit einem ganz eigenen literarisch-konstruktiven Charakter. Das haben schon Einige probiert, doch nur Wenigen glückte es. Hermann Kurzke gehört sicherlich dazu. Man wird wohl auf absehbare Zeit den Namen Büchner mit dem seines neuen Biografen und Interpreten Kurzke verbinden.

(Klaus Prinz; 03/2013)


Hermann Kurzke: "Georg Büchner. Geschichte eines Genies"
C.H. Beck, 2013. 591 Seiten.
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