Andrej Bitow: "Der Symmetrielehrer"
Stille Post
Andrej Bitow ist einer der ganz großen russischen Modernisten unter den
Schriftstellern, einer, der ganz anders geartete Literatur schreibt, als
seine kommerziell weit erfolgreicheren Kollegen Viktor
Pelewin oder Vladimir
Sorokin. Der in einer Architektenfamilie 1937 im damaligen
Leningrad geborene Bitow veröffentlicht seit 1959 Essays, Erzählungen
und Romane. Sein Anfang der 1970er-Jahre entstandener, sarkastisch
parodistischer Roman "Das
Puschkinhaus" bescherte ihm ein Publikationsverbot, das bis zum
Einsetzen der Perestroika aufrecht blieb. Erst ab etwa 1987 konnten
wieder Bücher von Andrej Bitow veröffentlicht werden.
"Der Symmetrielehrer" soll, so wird der Leser auf der ersten Seite
gleich belehrt, im Original "The Teacher of Symmetry" heißen und
gar nicht aus der Feder von Andrej Bitow stammen, sondern von einem
gewissen A. Tired-Boffin verfasst worden sein. Eine Jahresangabe des
angeblich in London entstandenen Textes fehlt, ebenso fehlen genauere
Angaben zum vermeintlichen Autor. Andrej Bitow soll der Übersetzer aus
dem, wie es heißt, "Ausländischen" sein, Rosemarie Tietze die
Übersetzerin der von Andrej Bitow aus dem Gedächtnis erstellten
Übersetzung.
Für Andrej Bitow typisch, der Name des vorgeschobenen Autors A.
Tired-Boffin bedeutet, übersetzt, ziemlich genau "müder (geheimer)
Wissenschaftler". Andererseits könnte man sich mit viel Fantasie
und ein paar kleinen Änderungen auch ein Anagramm des Autors aus dem
müden Wissenschaftler schnitzen. Vor allem müsste man Bitow mit zwei "f"
transkribieren ("Bitoff"). Natürlich verbirgt sich hinter diesem
dubiosen Schriftsteller in Wahrheit der Autor, oder, ich bitte um
Entschuldigung, der Übersetzer.
Im Vorwort des Echoromans erfährt man, dass der Übersetzer in seiner
Zeit als Geologe während einer Expedition Geschichten aus einem
englischen Buch erzählen musste, das er, mangels wirklich überzeugender
Englischkenntnisse und trotz Vorhandenseins eines Wörterbuches nur, wenn
überhaupt, halb verstanden habe. Er hatte den Text bei seinen
Erzählungen daher ausgeschmückt und dort, wo er das Original nicht
verstanden hatte, Dinge, Details und Entwicklungen erfunden.
Zehn Jahre später weckt ein "unglaubliches Erlebnis" die
Erinnerung an eine der Erzählungen und löst die Erinnerung an den
übersetzten Roman aus, während dem Übersetzer aber gleichzeitig das "unglaubliche
Ereignis" aus dem Gedächtnis verschwindet. So sieht er sich
gezwungen, seine Notizen, oder besser detaillierten Aufzeichnungen von
damals wieder zu lesen und hofft, dass er sich durch ein neuerliches
Nacherzählen, diesmal in schriftlicher Form, von diesen in seinem Gehirn
spukenden Geschichten wird lösen können.
So entsteht eine Art Nacherzählung einer Nacherzählung einer
Nacherzählung, jeweils entfremdet entweder durch Sprachbarrieren, die
Erinnerung, sowie die Erinnerung an die Erinnerung.
Und so taucht im Echoroman ein weiteres Alter Ego des Autors auf, ein
gewisser Autor Urbino Vanoski, der seinen Namen später in das Pseudonym
Ris Vokonabi verwandelt. Beide unschwer als Anagramme von Bitows großem
Vorbild Vladimir
Nabokov (Sirin) zu entschlüsseln.
Einige der Erzählungen wurden bereits 1987 veröffentlicht. So hat "Der
Symmetrielehrer" eine recht lange Entstehungsgeschichte, inklusive
einiger Änderungen. Für die deutsche Fassung hat Andrej Bitow auch
zahlreiche Änderungen vorgenommen.
Die Texte selbst überschlagen sich regelrecht vor Anspielungen,
Illusionen, Allusionen, Ironie und schonungsloser Kritik, Selbstironie
und Gedanken über das Schriftstellerdasein per se. Besonders in
Erinnerung bleiben die Gespräche zwischen Gummi, einem vermeintlich vom
Mond stammenden etwas sonderbaren Gesellen, und Dr. Davin. Oder auch die
Geschichte von einem Mann, der als britischer König aus Liebe zu seiner
französischen Frau in Paris lebt, der sich dann als Redakteur der
"Encyclopedia Britannica" erweist, der die Vergangenheit nach eigenem
Ermessen und mit reger Fantasie umschreibt. Die Stimmung der Prosa
wechselt zwischen funkelnden Ideen, Spielereien und Absurditäten hin und
her. Virtuos versteckt seine Kritik an Russland, dem Pathos der Russen
in ironischen Reflexionen, die in der polyfonen Struktur seines aus
verschiedenen Novellen bestehenden Romans zwischen Haupt-, Neben- und
Mittelstimmen hin- und herflirren.
Andrej Bitows Echoroman "Der Symmetrielehrer" ist ein wunderbares
Beispiel für seine Kunst, Literatur fern aller modischen Strömungen zu
schreiben, die aufregend und spannend, die skurril, aberwitzig, ernst
und voll echter Aufrichtigkeit ist. Literatur als Kunstwerk.
Uneingeschränkt. Nichtsdestoweniger getrieben von einem unglaublich
starken narrativen Gestus, der den willigen Leser nicht kalt lassen
kann.
Rosemarie Tietzes Übersetzung ist, ohne Übertreibung, kongenial, es ist
faszinierend, zu lesen, wie virtuos sie Bitows Wortspielereien ins
Deutsche übersetzt und dabei, wie hier doch etwas öfter notwendig, aus
Mangel an existierenden Möglichkeiten gleich ein paar interessante
Worterfindungen entstehen ließ.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 02/2013)
Andrej Bitow: "Der Symmetrielehrer"
(Originaltitel "Prepodavatel' simmetrii")
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Suhrkamp, 2012. 334 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Toby Lester: "Die Symmetrie der Welt. Leonardo da Vinci und das
Geheimnis seiner berühmtesten Zeichnung"
Jeder kennt dieses Motiv: ein Mann, sorgfältig gezeichnet, die Arme und
Beine ausgebreitet, steht in einem Kreis und einem Quadrat, die
Körperteile befinden sich in einem idealen Verhältnis zueinander. Das
Bild steht nicht nur für die Schönheit des menschlichen Körpers, sondern
auch für die Universalität der Kunst und des menschlichen Geistes. Toby
Lester spannt den Bogen vom ersten vorchristlichen Jahrhundert, in dem
der römische Architekt Vitruv seine Theorie des wohlgeformten Menschen
vorlegte, über das Mittelalter und Hildegard von Bingens Vorstellungen
von der Rolle des Menschen im Mikrokosmos bis in die Tage Leonardos, als
die Künstler, Baumeister und Philosophen
der Renaissance ihr Verhältnis zur Welt neu definierten. Lester
zeigt, wie Kunst, Naturwissenschaften und Philosophie an der Wende zum
15. Jahrhundert zu einer Einheit verschmolzen und Leonardo
zu einer Darstellung inspirierten, die den Menschen in das Zentrum rückt
- und die uns bis heute fasziniert. (Berlin Verlag)
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