Marcel Aymé: "Der wunderbare Friseur"
Das mondäne Paris zwischen
den Weltkriegen: ein ausklingendes Zeitalter
Kaum ist Micheline Lenoir von ihrer zweimonatigen Hochzeitsreise nach
Paris zurückgekehrt, als ihr Vater, ein schwerreicher Fabrikbesitzer,
stirbt - ausgerechnet, während Frankreich von ersten Streiks erschüttert
wird. Dies hat zur Folge, dass ihr Mann, der sich nur für seinen Laufsport
interessiert, genötigt wird, in der Verwaltung der Fabrik mitzuarbeiten.
Verdrossen fügt er sich in dieses Schicksal und bittet einen Freund der
Familie, Bernard Ancelot, die morgendlichen Tennispartien mit seiner
Frau, die er selbst nun nicht mehr wahrnehmen kann, zu übernehmen.
Bernard kann sein Glück nicht fassen, ist er doch in Micheline verliebt
und erhält so überraschend die Möglichkeit, sie täglich zu sehen.
Während jedoch aufgrund von Bernards Skrupeln - und weil er sich seiner
selbst und seiner Familie schämt; sein Vater hat sein mäßiges Vermögen
nicht ganz legal erwirtschaftet, und seine Schwestern sind
pseudointellektuell und ständig auf amouröse Abenteuer aus - diese
Liebesgeschichte nicht recht vorankommt, stellt sich heraus, dass
Michelines Vater eine junge Geliebte hatte, für die sich nun ihr Onkel
und ein weiterer Verwandter interessieren. Allmählich entsteht ein
eigenartiger, düsterer Reigen von oberflächlichen Gefühlen und
Leidenschaften, denen von Anfang an ein seltsamer Verdruss oder auch
reine Berechnung innewohnen. Ein Mord bringt das ganze Lügengebäude zum
Einsturz. Und wie es aussieht, lenkt allein ein gewiefter Friseur die
Geschicke des Landes.
Die titelgebende Figur taucht erst erstaunlich spät in der Handlung auf
und präsentiert sich als ominöser und diskreter Strippenzieher, während
alle anderen Personen wie Getriebene und zugleich wie ferngesteuerte
Marionetten wirken. Jene, die der gehobenen und oberen
Gesellschaftsschicht angehören, widmen sich ihrer gepflegten Langeweile
und ihren oberflächlichen Zerstreuungen; die frisch gebackene Witwe
Lasquin, Mutter von Micheline, ist begeistert, als sie von der Geliebten
ihres Mannes erfährt, denn jetzt kann sie mit einem eigenen Skandal
aufwarten und muss nicht nur ehrfürchtig entsprechenden Geschichten der
Köchin und einer befreundeten Gräfin lauschen. Ein einfacher Arbeiter,
von einem homosexuellen Gönner in den Kreis eingeführt, mischt diese
manische Gesellschaft regelrecht auf im Versuch, ein möglichst großes
Stück von dem riesigen Kuchen zu ergattern, der ihm vorgeführt wird.
Der Roman zeigt eine Gesellschaft im Umbruch, den Verfall der Elite und
das Aufbegehren der Arbeiterschaft im Jahr 1936, zeigt ohne Mitleid
Haltlosigkeit oder hohle Ideale, Promiskuität aus Langeweile und
Überdruss oder - seitens der Damen - einer Art höflichen Entgegenkommens
den begehrenden Männern gegenüber. Dem gegenüber steht die eiskalte
Berechnung des aufstrebenden Günstlings aus der Unterschicht.
Marcel Aymé hat mit "Der wunderbare Friseur" eine bitterböse und dabei
sehr stimmungsvolle, düstere Satire auf die französische Gesellschaft
jener Zeit verfasst, insbesondere die "Crème", die, den nahenden
Untergang vor Augen, Arbeit zumeist nur als lästige Pflicht betrachtet
oder stur betreibt, die Zeichen
der Zeit ausblendend; die niveaulose Poesie von selbst ernannten
Dichtern mit ebenso miserablen und bedeutungslosen Worthülsen
kommentiert, mit linken Ideen kokettiert, ohne sie wirklich zu
begreifen, dabei einen ausgemacht "rechten" Lebensstil pflegt und im
Notfall zum Friseur geht, der die richtigen Leute kennt, um alles wieder
hinzubiegen.
Ein exzellentes Stück Literatur von einem Autor, der seiner Gesellschaft
einen Spiegel
vorhält, dessen Wirkung irritiert: Vielleicht hätte Aymé über unsere
heutige Lebensart ähnlich geschrieben?
(Regina Károlyi; 05/2013)
Marcel Aymé: "Der wunderbare Friseur"
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer.
Aufbau Verlag, 2013. 319 Seiten.
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Marcel Aymé (1902-1967) war ein französischer Schriftsteller, stets politisch unkorrekt, bekannt für seinen bissigen Humor, die kraftvolle Sprache und die Novellensammlung "Der Mann, der durch die Wand gehen konnte".