Margaret Atwood: "Alias Grace"
Grace Marks war über weite
Strecken des 19. Jahrhunderts ein fester Bestandteil der kanadischen,
us-amerikanischen und britischen Berichterstattung. Sowohl der Fall
selbst, als auch die betreffende Verhandlung und die anschließenden
Bemühungen verschiedener Gruppen, die junge Frau aus dem Gefängnis
herauszubekommen, sollte die Gemüter der englischsprachigen Welt
beinahe 30 Jahre lang in Atem halten.
Der Fall der Grace Marks hat im 19. Jahrhundert die Presse in
Kanada, den USA und Großbritanniens sehr beschäftigt, und die
Frage, ob die damals sechzehnjährige Hausangestellte mitschuldig am Tod
ihres Arbeitgebers und dessen Lebensgefährtin war und die Geliebte des
dafür gehenkten James McDermott, hat die Menschen lange bewegt.
Aus ihrer Sicht und aus der Perspektive des jungen Nervenarztes Dr.
Simon Jordan, der plant, eine moderne Nervenheilanstalt
einzurichten und zunächst hofft, dass die Beschäftigung mit dem Fall
Marks ihm die dafür notwendige Popularität und damit auch notwendige
Geldgeber verschaffen könnte, wird die Geschichte von Graces
Leben und auch jene des guten Doktors, bis zu ihrer Begegnung, ihre
gemeinsame Zeit und auch die Zeit danach erzählt. Dabei werden die
einzelnen Erzählelemente durch Auszüge aus Gerichtsakten,
Zeitungsartikeln, Büchern und anderen Quellen ergänzt, sodass ein
erzählerischer Quilt entsteht, wie er auch durch Einzelquadrate am
Anfang der Kapitel dargestellt wird, und wie er im Hintergrund von
Graces Leben immer eine Rolle spielt. Denn während sie in ihrer
Angestellten- und Gefangenenzeit wiederholt Quilts für Andere anfertigt,
bekommt ein solcher - und dabei besonders das Motiv des
Paradiesbaums - schließlich eine ganz eigene Bedeutung für sie.
Neben der Geschichte um Graces Mittäterschaft, die auch Margaret Atwood
bewusst nicht auflöst, weil die Quellenlage dies eigentlich nicht
ermöglicht, bietet der Roman ein umfassendes Bild der Situation der
Frauen, der Armen und Reichen und des Standes der psychologischen
Forschung und ihrer Entwicklung im Verlauf des 19. Jahrhunderts und das
in überaus überzeugender Form. Jeder mögliche Romantizismus wird dabei
gnadenlos zerstört, und auch die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde
Wissenschaft der Psychologie
wird durch ihre Theoriewellen durchaus kontrovers gesehen - wie auch
gerade die Motive jener Männer, die sich dieser Wissenschaft zugewendet
haben.
Wie immer ist die Sprache Atwoods sehr dicht; vielleicht zu dicht für
die Erzählungen einer eher ungebildeten jungen Frau wie Grace Marks, die
durch ein elendes Leben in England, die grausame Überfahrt nach
Nordamerika, bei der ihre Mutter verstirbt, und durch die Bemühungen um
die Leben ihrer Geschwister eigentlich nie Zeit hatte, eine formale
Bildung zu genießen - und transportiert so wieder einmal viel mehr
Informationen und Überlegungen an die Leserschaft, als es Bücher
vergleichbarer Länge sonst tun, ohne Sachbücher zu sein. Grace wirkt
zwar wiegesagt oft unerwartet eloquent, aber bei den Abschnitten aus der
Doktorperspektive gleicht sich das dann wieder aus; besonders in jenen
Phasen, in denen Übertragungsreaktionen eine große Rolle spielen.
Gerade Dr. Jordans Lebensführung und die Motive für seine Arbeit
unterliegen einer sehr kritischen Würdigung, genau wie die Ansichten
einiger seiner Kollegen, die animalischen Magnetismus, Spiritismus und
das Frauenwahlrecht auf eine Stufe stellen. Hierbei wird wieder einmal
deutlich, dass eine psychiatrische Diagnose nicht notwendigerweise eine
Pathologie beschreiben muss, sondern auch eine Krankerklärung von
Verletzungen gesellschaftlicher Normen ist.
Kein leichter Lesestoff, aber sehr zu empfehlen.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 07/2013)
Margaret
Atwood: "Alias Grace"
Übersetzt von Brigitte Walitzeck.
Berlin Verlag. 624 Seiten.
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