Stefan Andres: "Die Versuchung des Synesios"
Ein seltsam aktuelles
Buch, das die Spätantike mit der Epoche des zweiten Vatikanums und
noch mehr mit heute verbindet
Es gibt Bücher, die zu einem bestimmten Zeitpunkt wie gerufen - oder
wohl eher: wie plötzlich aufgeschlagen - erscheinen. Das letzte, 1971
postum erschienene Buch von Stefan Andres (1906-1970), einem
Erfolgsautor der 1950er- und 1960er-Jahre widerspiegelt die lebenslange
Auseinandersetzung eines Exnovizen mit Kirche und kirchlichen Lehren.
Ich habe zufällig am 10. Februar 2013 begonnen, diesen historischen
Roman zu lesen, einen Tag vor der Ankündigung von Papst
Benedikt XVI., drei Wochen später zurückzutreten, und einige Tage
nach dem Aufflammen von fundamentalistischen Hasstiraden gegen koptische
Christen im ägyptischen Alexandria.
Auch das geschichtlich genau recherchierte Werk "Die Versuchung des
Synesios" beginnt in Ägypten. Prisca, die Witwe des Synesios, zieht nach
dessen Tod um 415 n.Chr. nach Alexandria zu ihrem Schwager, dem
Stadtpräfekten. Hier erlebt sie zufällig, wie christliche Fanatiker
Hypatia, die Lehrerin und Ratgeberin ihres Mannes, eine Philosophin der
vorchristlich-platonischen Tradition, ermorden. Rückblickend erzählt sie
Synesios' Leben seit der Zeit, als sie ihn in Alexandria kennenlernte.
Nach der Heirat lebt das Paar idyllisch und zurückgezogen auf einem
Gutshof, den Synesios' Großvater Doros gegründet hat, unweit von
Ptolemais, einer Stadt östlich von Bengasi im heutigen Libyen. Sie
selbst stammt aus Leptis Magna im westlichen, lateinischsprachigen Teil
des untergehenden Römischen Reiches. (Auch diese Stadt liegt im heutigen
Libyen.)
Als berühmter und wortgewandter Gelehrter wird Synesios ersucht, eine
Gesandtschaft zum kaiserlichen Hof in Konstantinopel anzuführen, um dort
Steuererleichterungen zu erbitten. Während seiner mehrmonatigen
Abwesenheit bemerkt Prisca, dass sich nächtens unbekannte Eindringlinge
am Hof herumtreiben; jemand vergiftet die Hunde, und Synesios' Bruder
Euoptios versucht, Prisca zu verführen. Als endlich Synesios auf den
Doroshof zurückkehrt, setzt er einen neuen Verwalter, den Juden
Leonidas, ein. Ein weiterer Mitarbeiter ist Zoroastrier aus Persien. Das
multireligiöse "Führungsteam" des Hofes - Synesios ist ungetauft,
Prisca seit ihrer Geburt Christin - stößt auch beim Hauspriester
Zosimos auf Widerstand und Unverständnis. Mit Prisca zieht Synesios in
die Stadt Kyrene, um wieder in der Öffentlichkeit zu leben. Nach einer
Konfrontation mit dem machtlüsternen und korrupten kaiserlichen General
Andronikos kehren die beiden mit ihren Kindern auf den Doroshof zurück.
Gegen die zunehmenden Überfälle der Wüstenstämme wird auf einem Hügel in
der Nähe ein Kastell errichtet. Synesios kann die Eindringlinge mit
Hilfe von germanischen und hunnischen Söldnern zurückschlagen, obwohl
Andronikos die Banditen unterstützt. Dieser wird auf Ersuche von
Synesios abgelöst und durch Anysios ersetzt.
Synesios und Prisca überlegen dennoch, vor der Gefahr zu weichen und aus
der Kyrenaika wegzugehen, doch eine Gesandtschaft angesehener Männer
schlägt vor, dass Synesios zum Bischof von Ptolemais gewählt werden
solle, obwohl er gegen den Widerstand einer fast gänzlich christlichen
Umgebung noch immer ungetauft und außerdem verheiratet ist. Synesios
stellt scheinbar unannehmbare Bedingungen für seine Wahl, vor allem
möchte er seine philosophischen Überzeugungen nicht aufgeben. Kirchliche
Dogmen, die er als Philosoph unannehmbar findet, hält er für Mythen, die
nur für Unverständige bestimmt sind. Weiterhin hält er an seiner
Überzeugung von der Ewigkeit der Welt und der Präexistenz der Seele fest
Der Patriarch von Alexandria lässt sich aber nicht beirren und weiht ihn
zum Bischof. In diesem geistlich hohen und weltlich nicht unbedeutenden
Amt ist für ihn Bildung der Schlüssel zur Humanität, nicht die Taufe
oder der formelle Übertritt zur nunmehrigen Staatsreligion. Denn, wie er
am eigenen Leib erfahren muss, erweisen sich auch Christen in Haltung
und Handlung zuweilen als barbarisch. Im
Triumphzug kehrt er nach Ptolemais zurück und trifft dort wieder auf
seinen Widersacher Andronikos, der trotz seinem früheren Geheimbündnis
mit den Wüstenstämmen zur gleichen Zeit Statthalter der Provinz geworden
ist.
Sein Bischofsamt nimmt Synesios sehr ernst. Immer wieder kommt es zu
Auseinandersetzungen mit Andronikos. Prisca und Synesios' persischer
Sekretär Chilos finden heraus, dass der Archidiakon Laokoon heimlich und
in Andronikos' Auftrag eine Biografie des Synesios schreibt, in der er
seine Frau Prisca verleumdet und üble Gerüchte gegen Synesios sammelt.
Synesios erhebt offene Anklage gegen den Statthalter und exkommuniziert
ihn. Doch Andronikos hat mächtige Freunde, auch nach seiner Absetzung
als Statthalter.
Als Synesios seine Kinder auf den Doroshof in Sicherheit bringen will,
werden sie überfallen und getötet. Ihn selbst lockt man mit einem
gefälschten Brief in die Wüste - er kommt nie mehr zurück. Als Euoptios
und nach seinem Tod dann Laokoon zum Bischof gewählt werden, flüchtet
Prisca nach Alexandria.
Die Biografie ihres Mannes ist eine Gegenschrift zur verleumderischen
Schrift seines Nachnachfolgers Laokoon.
An "Die Versuchung des Synesios" hat der theologisch und altphilologisch
gebildete Stefan Andres mehr als zwanzig Jahre lang gearbeitet. Aus
einer katholischen Müllerfamilie stammend, verbrachte er die Jugendjahre
im Noviziat verschiedener Orden, gab jedoch als Dreiundzwanzigjähriger
die geistliche Laufbahn endgültig auf. Mit den alten Sprachen Griechisch
und Latein
war er von früher Jugend an gut vertraut; die antiken
Mythen verstand er zeit seines Lebens als Zeugnisse und
Möglichkeiten, die Grundgegebenheiten des Menschen zu erhalten und sich
zu erschließen. Seine Christlichkeit richtete sich scharf gegen den
Nationalsozialismus und prägte ein gläubiges und höchst humanistisches,
nicht aber dogmatisches oder sich gar im Pietismus verlierendes Leben.
Synesios wird angesichts dieser biografischen Hintergründe zum antiken
Alter Ego des Autors. Die politische Unsicherheit der Spätantike und das
langsam zu einer dogmatischen Reichsreligion erstarkte Christentum
bilden das konfliktträchtige Umfeld des Romans. Zwar sind von der
einflussreichen Philosophin, Mathematikerin und Astronomin Hypatia alle
Werke verloren, doch zahlreiche Briefe des historischen Synesios - auch
an sie, seine Lehrerin - sind bis heute erhalten und dienten dem Autor
als Inspirationsquelle. Die beiden Herausgeberinnen, Theologinnen und
Germanistinnen, sind den Quellen detektivisch auf die Spur gegangen:
Kein Name, kein Ortsangabe im Roman bleibt unkommentiert; oft verweisen
sie in den umfangreichen Erläuterungen auf historische Zusammenhänge und
die antiken Überlieferungen. Der Text des Romans wäre auch ohne diese
Kommentare lesbar und spannend, es gelänge aber kaum, in ihm einen
kritischen Gegenentwurf zu den religiösen und gesellschaftlichen Krisen
der heutigen Zeit zu sehen - auch wenn Stefan Andres den Text schon
vor fast sechzig Jahren begonnen hat!
Nicht nur Fragen des Zölibats und möglicher Abweichungen individueller
Überzeugungen von kirchlichen Dogmen werden angeschnitten; mehr noch
geht es um die Frage, welche Rolle eine Religion und religiöse
Würdenträger in staatlichen Strukturen haben können und sollen. Wie sind
Minderheiten zu schützen und geistige Traditionen zu bewahren, auch wenn
sie nicht mehrheitsfähig sind?
Der hoch gebildete, politisch aktive und ethisch unbeirrbare Stefan
Andres war einer der wichtigsten Vertreter der inneren Emigration und
nach dem Zweiten Weltkrieg ein vielgelesener Autor. Doch bis vor Kurzem
war kaum eines seiner Bücher lieferbar. Wenn der Wallstein-Verlag nun
"Die Versuchung des Synesios", ein Schlüsselwerks zum Verständnis des
Gesamtwerks, und andere seiner Romane neu herausgibt, wird zwar das
ungerechtfertigte Vergessenwerden des Autors nicht rückgängig gemacht,
aber Leserinnen und Lesern die Chance geboten, ihn neu zu entdecken.
(Wolfgang Moser; 05/2013)
Stefan
Andres: "Die Versuchung des Synesios"
Herausgegeben von Sieghild von Blumenthal und Doris Weirich.
Wallstein Verlag, 2013. 461 Seiten.
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Noch ein
Buchtipp:
Synesios von Kyrene: "Lob der Kahlheit"
Übersetzt, kommentiert und mit einem Anhang versehen, zweisprachig
griechisch-deutsch.
Das "Lob der Kahlheit" des Synesios von Kyrene ist eine verborgene Perle
der spätantiken Literatur. Die erste und einzige Übersetzung des
Opusculum ins Deutsche ist über 150 Jahre alt: Verwunderlich bei der
zeitlosen Aktualität des Themas. In den letzten zwei Jahrzehnten
erschienene Übertragungen ins Französische, Italienische und Englische
haben den geheimen Reiz dieser literarischen Tändelei kenntlich werden
lassen und sind auf große Leserresonanz gestoßen. In dieser Situation
scheint eine moderne Übersetzung ins Deutsche gut zu passen. Der
Übersetzer hat sich dabei vom Grundsatz "Lesbarkeit vor Wörtlichkeit"
leiten lassen. Die Tendenz zu einer vergleichsweise freien Wiedergabe
des Textes erschien ihm um so mehr vertretbar, als es sich um ein
ausgesprochen spielerisches Werk handelt. Der Kommentar will mehr als
stichwortartige Erläuterungen zu fremden oder fremdgewordenen Personen
und Begriffen liefern und verzeichnet deshalb relativ viele
Originalstellen aus der antiken Literatur.
Im Anhang werden Leben und Werk des Synesios von Kyrene vorgestellt, und
es wird der Versuch unternommen, das "Lob der Kahlheit" kultur- und
literaturgeschichtlich einzuordnen. Im Literaturverzeichnis findet man
außer den wenigen klassischen Arbeiten nur Aufsätze und Monografien aus
jüngerer Zeit. Die Lektüre des Werkes verspricht gepflegte Unterhaltung
für alle, die es wagen, sich auf spätantike Dialektik einzulassen, und
spendet jenen, die wie Synesios unter frühem Haarausfall zu leiden
haben, Trost in mehr als homöopathischer Dosis.
Der Autor Professor Dr. Werner Golder ist Arzt für Radiologie und
Altphilologe. Mit den in seinem geisteswissenschaftlichen Zweitstudium
erworbenen Kenntnissen erforscht er die literarischen Quellen der
Geschichte der antiken
Medizin. (Königshausen & Neumann)
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