Annette Seemann: "Weimar"
Eine Kulturgeschichte
Weimar: eine deutsche
Stadt, ein deutscher Mythos. Ein kulturhistorisches Resümee.
Mit rund 65.000 Einwohnern ist Weimar in Thüringen eine deutsche
Kleinstadt. Sie nennt sich "Kulturstadt Europas", war 1999
Kulturhauptstadt Europas und pflegt ihren Ruf als Inbegriff deutscher
Kultur. Ihr kulturelles Erbe, auf das sich die Stadt bezieht und das die
Stadtverwaltung in ihrem Netzauftritt (http://www.weimar.de) zwar etwas ungeschickt "zwischen
Klassik und Bauhaus, zwischen Gedenkstätte Buchenwald und Schloss
Ettersburg" verortet, ist tatsächlich beeindruckend.
Weimar ist ja nicht nur die Wahlheimat von Goethe
und Schiller,
sondern war schon Jahrhunderte zuvor ein Zentrum der deutschen
Reformation, sie war Wirkungsstätte großer Musiker wie Johann
Sebastian Bach und später Franz
Liszt, beherbergte Friedrich Nietzsche, und im vorigen Jahrhundert
war sie schließlich Geburtsstadt der Bauhaus-Bewegung. Politische
Bedeutung erlangte sie erst als Symbolort. Nach dem Ersten Weltkrieg
wurde Weimar Sitz der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung
und somit zur Namensgeberin der Weimarer Republik. Ihre
Verstrickung mit dem Nationalsozialismus und Vereinnahmung durch die DDR
war schließlich das Fanal für die prekäre Ambivalenz der aufklärerischen
deutschen Kulturelite. Die "deutscheste aller deutschen Städte",
wie sie auch gerne genannt wurde, spiegelte deutsche Geschichte wie in
einem Brennglas.
Wie Weimar zu diesem Brennpunkt deutscher Kultur wurde, zeichnet Annette
Seemann, Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin,
anschaulich in ihrer Kulturgeschichte Weimars nach. Dabei gelingt es
ihr, anstelle einer ermüdenden Stadtchronik anhand der wesentlichen
Stationen der Weimarer Kulturgeschichte die Entstehung des Mythos Weimar
zu verdeutlichen und in seiner historischen Entstehung fassbar zu
machen.
Denn - und die Frage steht für uns schon immer im Raum - was trieb den
jungen Goethe, von Frankfurt nach Weimar, damals einem
6.000-Seelen-Dorf, zu ziehen, um dort seine Selbstverwirklichung zu
suchen? Wieland, Herder, Schiller? Oder hundert Jahre später Liszt? Was
war so interessant an Sachsen-Weimar-Eisenach, diesem Duodezfürstentum,
wie in der politisch-historischen Debatte ein Fürstentum dieser
Größenordnung gerne abfällig genannt wird? Überraschend dann die
Erkenntnis, dass schon früh, bereits im 17. Jahrhundert, diese Weimarer
Tradition entstand, der Ruf, ein Hort deutscher Bildung und Kultur zu
sein. Je kleiner und politisch bedeutungsloser das Herzogtum wurde,
desto größer der Ehrgeiz der Herrscher, die kleine Residenzstadt Weimar
zu einem kulturellen Zentrum, ja vielleicht sogar zu einer
Gelehrtenrepublik zu machen.
In der "Goldenen Zeit" Goethes wurde Weimar dann zum Weltentwurf. An die
Stelle von politischer Macht trat die kulturelle Überlegenheit.
Ausführlich beschreibt die Autorin die unterschiedlichsten Aspekte
dieser von der Herrscherfamilie und den Künstlern gemeinsam betriebenen
Kulturpolitik. Nach Goethes Tod entwickelte sich Weimar zunehmend zu
einem Symbol für die noch nicht existierende deutsche Einheit. "Weimar",
so resümiert Seemann, "wurde losgelöst von der realen Stadt ein
deutscher Sehnsuchtsort und letztlich auch eine Marke, die sich auf
verschiedene Weise ideologisch nutzen ließ. Dichtergedenkstätten und
Denkmäler mussten ganz unterschiedliche kulturelle oder politische
Ziele beglaubigen."
Seine bösartigste Vereinnahmung erfuhr der Mythosort durch die
Nationalsozialisten, die nur sieben Kilometer von diesem Wahrzeichen
deutscher Kultur entfernt das KZ Buchenwald errichteten. In Sichtweite
und ohne Protest der Bildungsbürger.
Diese Kulturgeschichte ist eine solide Arbeit, komplett mit Zeittafel,
Anmerkungen, Literaturhinweisen und einem Personenregister. Sie gibt
einen guten Überblick über Geschichte und Entwicklung, geht ein auf die
vielfachen Verbindungen und Wechselwirkungen und schafft damit eine
nachvollziehbare Synthese und Analyse von Weimars Sonderstellung.
Das Faszinierende an Weimar ist, dass über 500 Jahre (selbst)bewusst,
mit Elan und Ausdauer, das Profil einer Kulturstadt ausgebildet und an
dem Mythos gearbeitet wurde. Wobei "Mythos" im weiteren Sinn sowohl
Personen, Dinge und Ereignisse von glorifizierter symbolischer Bedeutung
bezeichnet als auch einfach nur eine irrationale Vorstellung oder Lüge.
Weimar ist wohl beides.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 05/2012)
Annette Seemann: "Weimar. Eine
Kulturgeschichte"
C.H. Beck, 2012. 464 Seiten, mit 91 Abbildungen und 1 Karte.
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Annette Seemann, geboren
1959, lebt als Autorin und Übersetzerin in Weimar. Einer größeren
Leserschaft wurde sie mit verschiedenen Büchern zu Weimar bekannt,
darunter "Anna
Amalia. Herzogin von Weimar" und "Weimar. Ein Reisebegleiter":
"Weimar. Ein Reisebegleiter"
Weimar ist nicht nur die Stadt der Klassik ...
Der vorliegende Band lädt ein, die Stadt und ihre Umgebung auf zwölf
Spaziergängen und Ausflügen zu entdecken. Kenntnisreich führt Annette
Seemann durch die Jahrhunderte von der vorklassischen Zeit bis zur
Gegenwart. Berücksichtigt werden auch die vielfältigen Beziehungen die
die Literatur in Weimar seit jeher mit den anderen Künsten einging: mit
der Architektur, der bildenden Kunst, dem Theater und der Musik.
Zu Wort kommen Goethe, Wieland,
Herder und Schiller ebenso wie Marie
Luise Kaschnitz, Thomas
Mann, Wulf Kirsten, Imre
Kertész, Jorge
Semprun und viele Andere. (Insel)
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Klaus
Gallas: "Reclams Städteführer Architektur und Kunst Weimar"
Einführender Essay zur Stadtgeschichte, kurze chronologische
Übersicht über die Stadtentwicklung, Darstellung der wichtigsten
Profan- und Sakralbauten, Museen und Denkmäler,
Besichtigungsvorschläge für ein- und mehrtägige Aufenthalte,
Jahreskalender zu den kulturellen Veranstaltungen, zahlreiche
Abbildungen, Stadtteilpläne und Grundrisse, Register, Literatur- und
Internethinweise, mit farbigen Innenstadtplänen in den
Umschlagklappen. (Reclam)
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Bernd Weinkauf (Hrsg.): "Weimar"
Weimar: europäische Kulturhauptstadt und thüringisches Provinznest -
zwischen diesen Polen haben über Jahrhunderte hin Einheimische und
Besucher aus aller Welt, Militärs und Künstler, Politiker und
Wissenschaftler die alte Residenzstadt an der Ilm erlebt. Viele von
ihnen haben in literarischen oder journalistischen Texten ihren
unverwechselbar subjektiven Eindruck von der Begegnung hinterlassen.
Diese Anthologie macht den Reichtum der Beschreibungen für heutige
Leser wieder zugänglich, sodass die Gesamtschau der Texte ein
objektives Geschichtspanorama abbildet. Weimar war für Otto Mejer ein
Mekka, Goethe grämte sich über Vandalen in der Stadt, Bratwurstkrieg
und Zwiebelmarkt machen Weimar heute bunt. Warum die deutsche Republik
eine Weimarer wurde und was ein Weimaraner ist, entdeckt die
Anthologie ebenso wie die Erlebnisse von Kandinsky, Nietzsche
oder Hochhuth. Weimar - das ist auch Buchenwald.
Warum Albert
Schweitzer hier mit einem Denkmal geehrt wird, und wieso Weimar
einmal "Pumpernickel" war - alles nachzulesen.
Mit Texten von: Johan Wolfgang von Goethe, Hans
Christian
Andersen, Friedrich
Engels, Rudolf Steiner, Sophie
von
La Roche, u. v. m. (Wieser)
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Anke John: "Der Weimarer Bundesstaat.
Perspektiven einer föderalen Ordnung (1918-1933)"
Nach 1918 fanden Pläne zur Auflösung und Neubildung historischer
Länder Verbreitung. Bis zum nationalsozialistischen Machtantritt
wurde darüber debattiert, ob das Reich weiter in seiner
bundesstaatlichen Konstruktion getragen werden sollte oder ob es als
Republik nicht besser in einem Einheitsstaat aufgehoben sei.
Untersucht werden die disparaten Interessen und kommunikativen
Strategien, die in dieser Zeit auf eine Reform der
Reich-Länder-Beziehungen abzielten und die die Bindungen der
Weimarer Zeitgenossen an die traditionelle föderative Ordnung
lockerten. Die Darstellung verlässt die Eigenlogik begrenzter
regionaler Probleme und greift über einen traditionellen
politikgeschichtlichen Ansatz hinaus: Das Streben nach dem
perfektionierten Bundesstaat wird aus den modernen Tendenzen
verdichteter Kommunikation, Urbanisierung und wirtschaftlicher
Verflechtung heraus begründet. (Böhlau)
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Hrsg. Walter Müller-Seidel und Wolfgang Riedel: "Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde" zur Rezension ...