Martin Walser: "Über Rechtfertigung, eine Versuchung"


Das vorliegende kleine Buch von Martin Walser ist eine Rede, die er während eines Amerikabesuches am 9. November 2011 in Harvard gehalten hat. Nach eigenen Aussagen steht diese Rede zwischen seinen beiden Büchern "Muttersohn", das diese Rede quasi vorweggenommen habe, und einem noch unbetitelten neuen Roman, an dem er arbeite und in dem die Thematik der Rede weitergeführt werde.

"Gerechtfertigt zu sein", so beginnt Walser seine Rede, "das war einmal das Wichtigste. Staaten legitimierten sich durch Gesetze. Regierungen durch Wahlen. Aber der Einzelne?" Am Beispiel von Josef K. aus Franz Kafkas "Prozeß" zeigt er eindrucksvoll, wie in einem "Roman einer Gewissenserforschung, einer Suche nach Rechtfertigung" der Held das Fehlen von Rechtfertigung als Drama erlebt und daran zugrunde geht.

Josef K. sei die letzte literarische Figur, die nach Rechtfertigung sucht. Schon seit Langem hätten, so Walser, die Menschen im Allgemeinen und die Literaten im Besonderen kein Bedürfnis mehr nach Rechtfertigung, sie stellten noch nicht einmal mehr die Frage danach. Rechtfertigung sei komplett ersetzt durch das Rechthaben. Eine Verarmung mit Folgen.

Walser will diesen Zustand nicht hinnehmen. Er, dessen Denken nicht erst seit seinem Roman "Muttersohn" und der daraus entnommenen Novelle "Mein Jenseits" immer mehr von der Religion (nicht der Kirche) geprägt wird, will Religion als Literatur lesen. Und er sagt: "Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei."

Und er führt nach seinen Überlegungen über Kafkas "Prozeß" seine Zuhörer und Leser auf eine historische Tour in die philosophischen und religiösen Dimensionen der Rechtfertigung. Da liest und interpretiert er Augustinus, beschreibt, was Luther und Calvin über die Rechtfertigung allein aus Glauben und nicht aus den Werken zu sagen hatten, und landet bei Max Weber und Karl Barth, die mit  "Die protestantische Ethik" und "Der Römerbrief" etwa zeitgleich 1919/1920 bahnbrechende Werke veröffentlichten.

Walser schlüpft überdies in die Rolle eines Theologieprofessors und hält ein Seminar über "Friedrich Nietzsche und Karl Barth". Hier, in diesen Reflexionen über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten eines Philosophen, der Walser schon seit Langem herausfordert, und eines Theologen, den er wohl erst vor Kurzem neu entdeckt hat, liegt das energetische Zentrum dieser Rede.

Vor allem Karl Barth hat es Martin Walser angetan. Was anno 1919 die Theologie revolutionierte, verkündet heute kaum noch ein protestantischer Pfarrer. Es klingt antiquiert, und dabei ist es so zentral, dass Walser die folgenden Sätze mehrfach zitierend wiederholt: "Als der unbekannte Gott wird Gott erkannt: (...) als der, an den man nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben kann." Und: "Nie wird Ehrfurcht und Demut vor Gott etwas anderes sein wollen als Hohlraum Entbehren und Hoffen."

Nicht nur die Studenten am 9. November 2011 stellten nach Walsers Rede kritische Fragen zu einem Text, den sie als christliche Predigt empfunden hatten. Er wolle Religion und Literatur zusammenbringen, antwortete er damals, und er wundere sich, dass das unter Intellektuellen nicht mehr stattfinde.

Man wird sehen, wie dieses für den Rezensenten als Theologen lesenswerte und eindrückliche Nachdenken in dem angekündigten neuen Roman weitergeht. Eines sollte die Kritik an Walser nicht tun: seinen letzten Roman und diese Rede als Altersreligiosität abtun.

(Winfried Stanzick; 03/2012)


Martin Walser: "Über Rechtfertigung, eine Versuchung"
Rowohlt, 2012. 107 Seiten.
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