Martin Walser: "Das dreizehnte Kapitel"
Martin
Walser, das "Urgestein" der deutschen Literatur, hat wieder sein
Lieblingsthema, älterer Mann - jüngere Frau, in der
x-ten Variation seines Schaffens zum Besten gegeben.
In "Das dreizehnte Kapitel" wird viel theologisiert, philosophiert und
mit Sprache jongliert. Viel Weisheit macht das Buch zu einem
Lesevergnügen, viel Pathos mindert dieses aber wiederum.
Wie bei "Ein
fliehendes
Pferd" (eine Parallele dazu ist eine
Erwähnung von Kierkegaard
in diesem Buch), bestimmt Ambivalenz meine Meinung zu
seinem Werk.
Die Einleitung ist großartig, (die Fahrt zum Schloss Bellevue
und die Beschreibung des starren, der höfischen Etikette
entsprechenden Festaktes), voll Geist, Witz, Ironie und Charme, bis in
den Protagonisten Basil Schlupp (eine gewisse Lächerlichkeit
ist schon im Namen inkludiert) die Liebe wie der Blitz aus heiterem
Himmel einschlägt und er wie ein Pubertierender der
"göttlichen" Theologin Maja Schneilin einen Altar errichtet.
Das Alter der Dame erfährt man schon am Anfang des Buches,
jenes Basil Schlupps, des Schriftstellers, möglicherweise ein
alter ego Walsers, aber überhaupt nicht. Doch um gerecht zu
sein, das weibliche Geschlecht kommt bei Walser immer wesentlich besser
weg als der männliche Gegenpart. Walser ist ein
Frauenverehrer der alten Schule, und nehmen wir also die einseitige
Nennung des Alters als einmaligen Fauxpas.
Die beiden Briefverkehrenden zelebrieren einen Kult des
Unmöglichen auf fast pervertierte Weise, der Rezensent fragt
sich jedoch, wozu, wo doch in unserer Welt ohnehin so vieles
unmöglich ist, wo wir jeden Tag einen Menschen des anderen
Geschlechts treffen, ohne ihn je näher kennenlernen zu
können, wo doch diese Unmöglichkeit (und nicht nur
im Bereich der Liebe) ein Teil unseres Lebens ist.
Diesem Gesetz zumindest hat sich Basil Schlupp widersetzt, denn er
erfährt sehr viel über Maja Schneilin und vice versa.
Sowohl Basil Schlupp als auch Maja Schneilin lieben ihre jeweiligen
Partner fast bedingungs- und grenzenlos und trotzdem oder gerade
deshalb brauchen sie noch einen anderen Menschen, um diese Liebe zum
Ausdruck bringen zu können.
Der darauffolgende Briefwechsel hat seine guten, starken Momente, aber
etwas mehr Bodenhaftung hätte dem Ganzen nicht geschadet.
"Das dreizehnte Kapitel" ist eine sprachgewaltige Huldigung an die
Liebe, mit allen Komplexitäten und unendlichen Facetten (z.B.
die huldigende Liebe Maja Schneilins zu dem protestantischen Theologen
Karl Barth), Liebe, bis dass der Tod euch scheidet sozusagen, denn das
Ehepaar Schneilin wird in romantisch-morbider Art den Weg des Lebens
gemeinsam bis zum Ende gehen.
Die theologischen Dialoge haben dem Rezensenten am besten gefallen,
doch leider wollte Martin Walser sehr vieles, um nicht zu sagen zu
vieles, in dieses Buch verpacken, womöglich hätten
eine Konfrontation und ein Vergleich von Katholizismus und
Protestantismus durchaus gereicht, das wäre wirklich
interessant gewesen.
Gegen Ende des Romans wird der Leser auch noch mit
Jack
London konfrontiert, die Theologin begeht eine Art
Pilgerfahrt in Kanada (auch wenn es im Text nicht so genannt wird),
mit ihrem (vorläufig) in Genesung begriffenen Gemahl und dem
gemeinsamen Chauffeur (diesen Mann hat Maja Schneilin sozusagen von
der Straße aufgelesen, er war "natürlich" Zeuge
Jehowas - das klingt wie ein schlechtes Hollywooddrehbuch); man kann
alles übertreiben, zudem hat dieser Mann im Lauf der Handlung
nicht viel über Gott zu berichten, und es scheint ihm auch
kein großes Bedürfnis zu sein, er wirkt nicht gerade
theologisch geschult oder zumindest interessiert. Für den
Rezensenten stellt sich diese Person unglaubwürdig und
skizzenhaft porträtiert dar.
Durch Jack London - der Chauffeur liest dem Ehepaar Passagen aus dem
Buch "Der Ruf der Wildnis" vor, Jack London hat diese Gegend als
erfolgloser Goldgräber Ende des 19. Jahrhunderts durchforstet -
erhält das Werk eine Form von Bodenhaftung, welche aber
wiederum eine andere Spielart von Verklärung und Anbetung ist.
Natürlich muss man bei Jack London die Namen
Darwin,
Marx,
Nietzsche und
Schopenhauer mitdenken, und es ist ein absolutes Positivum
sowie eine Stärke Martin Walsers, dass er mit der
Erwähnung eines Namens im Leser ganze Gedankengebäude
und Assoziationsketten entstehen lässt.
Während der Kanadaradrundfahrt fährt den Reisenden
ein liebeskranker ehemaliger Slawistikprofessor über den Weg,
genauer gesagt, er gesellt sich zu dem Ehepaar in deren Zeltunterkunft,
und dieser Aussteigerprofessor und verhinderte Aufsteigerprofessor,
denn er wollte der Vizerektor seiner angebeteten Rektorin werden,
verliebt sich natürlich spontan in die Theologin, als
wäre die Rektorin nie gewesen, aber möglicherweise
sind Männer wirklich so simpel gestrickt?!
Diese Frau muss ja wirklich der Fleisch gewordene Liebeszauber sein;
bei solchen Passagen bekommt der Rezensent quasi Schmerzen am ganzen
Körper und empfindet das Gegenteil von Liebe.
Der Roman endet für drei Menschen letal - muss denn dieses
Dramatik wirklich sein?! Zumindest wird das titelgebende Buch, "Das
dreizehnte Kapitel", ein Versuch von Basil Schlupps Frau Iris, ihre
Gedanken schriftlich zu sammeln, nie veröffentlicht werden.
Summa summarum:
Das Buch hat den Rezensenten an einigen Stellen erfreut, an vielen
Stellen verärgert, das Wichtige ist, es hat ihn ausnahmsweise
wirklich bewegt. Man darf weiterhin die Welt des Martin Walser
erforschen, diese Expedition ist noch nicht zu Ende ...
(Josef Huber; 09/2012)
Martin
Walser: "Das dreizehnte Kapitel"
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2012. 272 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch:
Rowohlt, 2012.
Buch
bei amazon.de bestellen
Hörbuch (Autorenlesung):
Argon, 2012.
Hörbuch-CDs bei amazon.de bestellen
Ein weiterer Roman des
Autors:
"Ein sterbender Mann"
Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als "Nebenherschreiber"
erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der
ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen
Freund seit 19 Jahren, einem Dichter.
Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens
seiner Ehefrau, in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt,
er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist,
menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum
angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und erhält von
Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema:
der Freitod.
Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine
Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber
es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen
schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in
der Kartei, also schreibt er ihr - jede E-Mail der Hauch einer
Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu
Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch
dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer
offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben "eine verlorene, nicht zu
gewinnende Partie"?
Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat
ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und
überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft. (Rowohlt) zur
Rezension ...
Buch
bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
Roland Barthes: "Fragmente einer Sprache der Liebe"
1977 erschien in Paris "Fragments d'un discours amoureux". Das Buch
erklomm unmittelbar nach seiner Veröffentlichung die ersten
Plätze der Liste der meistgekauften Bücher; sein
Verfasser, ein bereits berühmter, weltweit geehrter
Wissenschaftler und Intellektueller wurde zum gefeierten Romancier.
"Fragmente einer Sprache der Liebe" gilt als das privateste und
zugleich populärste Werk von Roland Barthes. Die alphabetisch
geordneten sprachlichen Figuren der Lebenden - von
Abhängigkeit bis Zugrundegehen - geben die Reihenfolge vor, in
der die möglichen Zuwendungen zu einander Form gewinnen und
Verhalten bestimmen.
Im Rahmen der Edition der legendären Pariser Seminare von
Roland Barthes haben sich weitere Fragmente gefunden, die der Autor in
die Erstausgabe nicht aufgenommen hat, die jedoch eine perfekte
Ergänzung zum Diskurs jedes Liebenden sind. Wie setzten die
"Fragmente einer Sprache der Liebe" ein?: "Es ist also ein
Liebender, der hier spricht und sagt ...". (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Wilhelm Schmid: "Die Liebe atmen lassen"
Wilhelm Schmid fragt in "Die Liebe atmen lassen", warum die Liebe
in unserer Zeit so selten glückt, und zeigt Wege auf, wie sie
dennoch gelingen kann. Seine neue Kunst des Liebens zielt durch alle
Schwierigkeiten hindurch auf eine neue Leichtigkeit der Liebe und des
Lebens.
Die Liebe ist schwierig geworden. Alles soll sie leisten: uns
unendliche Glücksgefühle, unbändige
Leidenschaft und ewige Lust bescheren - allerdings ohne uns in unserer
Freiheit einzuschränken. Kein Wunder also, dass sie diesem
Erwartungsdruck kaum noch standhält: Die Liebe erstickt, wenn
sie immer nur Liebe sein muss. Aber ist das etwa ein Grund, von ihr zu
lassen? Das wäre schade, denn die Liebe ist
sinnstiftend wie kaum etwas sonst. Nach dem Ende der Liebe liegt daher
ein Neuanfang nahe, eine Renaissance der Liebe unter
veränderten Vorzeichen. Es ist Zeit, die Romantik zu retten,
sie auf neue Weise lebbar zu machen, die Liebe also neu zu erfinden:
als atmende Liebe, die zu einer pragmatischen Romantik in der Lage ist.
(Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Justus Bender, Jan Philipp
Burgard: "Glauben Sie noch an die
Liebe? Unerwartete Antworten von Hannelore Elsner, Eckart von
Hirschhausen, Michel Friedman, Sonya Kraus, Franz Müntefering,
Roger Willemsen und vielen Anderen"
"Liebe findet nicht zwischen den Beinen statt, sondern
zwischen den Ohren." Nicht nur Rainer Langhans, Altkommunarde
und Symbolfigur für zügellosen Sex,
erzählt
Unerwartetes über die Liebe. Justus Bender und Jan Philipp
Burgard haben Prominente aus Politik, Unterhaltungsgeschäft
und Kultur aufgefordert: Lassen Sie uns über Liebe reden - und
das Ergebnis ist so amüsant wie intim, so
überraschend wie nachdenklich. Wenn Menschen, egal, ob
berühmt oder mächtig, über Liebe sprechen,
zeigen sie sich verletzlich, geben etwas von sich preis. So entstehen
Momentaufnahmen, in denen bekannte Zeitgenossen überraschend
viel von sich zu erkennen geben.
Gespräche mit Hannelore Elsner, Franz Müntefering,
Roger
Willemsen, Gloria von Thurn und Taxis, Rolf Eden, Sonya
Kraus, Guido
Knopp, Claudia Roth, Jürgen Großmann,
Franziska Knuppe, Michel Friedman, Eckart
Witzigmann, Margarete Mitscherlich, Eckart von Hirschhausen
und Anderen. (C. Bertelsmann)
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch
bei amazon.de bestellen
Eva Illouz: "Warum Liebe
weh tut. Eine soziologische
Erklärung"
Warum tut Liebe weh, jedenfalls gelegentlich? Was fasziniert uns noch
heute an Figuren wie Emma Bovary oder Heathcliff und Catherine, den
unglücklich Liebenden aus Emily Brontës
"Sturmhöhe"? Und vor allem: Was unterscheidet uns von ihnen?
Gibt es einen Unterschied zwischen dem Liebeskummer zu Zeiten Jane
Austens und der Art und Weise, wie wir ihn heute erfahren und damit
umgehen?
"Ja", sagt Eva Illouz, die Meisterin der
soziologischen Analyse der Gefühlswelt moderner Menschen, und
widmet sich in diesem Buch der Schattenseite der Liebe. Sie zeigt,
inwiefern der Liebesschmerz wesentlich von den gesellschaftlichen
Bedingungen der jeweiligen Zeit geprägt wird und keineswegs
ein rein individuelles Problem ist, wie uns etwa Beziehungsratgeber
weismachen wollen. Das Leiden an der Liebe ist ein soziologisches
Phänomen, das Illouz untersucht wie einst Marx die Ware im
Kapitalismus: in Begriffen des Tauschs zwischen ungleichen
Marktteilnehmern. In sechs Kapiteln entfaltet sie die Ursachen
zeitgenössischen Liebesleidens sowie die Spezifika des
heutigen Umgangs mit Beziehungskrisen. Die digitalen
Heiratsmärkte spielen dabei ebenso eine Rolle wie die neuen
Mechanismen der Partnerwahl und der strategische Umgang mit der
romantischen Vorstellungskraft.
Nach den großen Erfolgen von "Der Konsum der Romantik,
Gefühle in Zeiten des Kapitalismus" und "Die
Errettung
der modernen Seele" schrieb Eva Illouz ihre
faszinierende Soziologie des modernen Menschen fort, die immer auch
kritische Bestandsaufnahme der Zeit ist, in der wir leben. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen