Annette Leo: "Erwin Strittmatter"

Die Biografie


Im Osten eine Legende und im Westen noch zu entdecken

So oder so ähnlich ließe sich Erwin Strittmatter zusammenfassen, sofern man dabei die Geschichte des 20. Jahrhunderts ausblendete. Doch in Deutschland - West oder Ost - die Geschichte auszublenden, greift bei Kulturschaffenden in aller Regel irgendwann zu kurz. Die Autorin gibt dem geneigten Leser in diesem Buch nun Gelegenheit, Strittmatters Anteil an der Geschichte in Augenschein zu nehmen, soweit das möglich ist.

"ANNÄHERUNG AN EINE UMSTRITTENE BIOGRAPHIE" prangt es in Majuskeln auf des Schutzumschlags Rückseite. Und weiter: "Kaum ein Schriftsteller wurde von seinen Lesern in der DDR geliebt und verehrt wie Erwin Strittmatter. Und kaum einer wurde später so radikal verurteilt."

Einleitungen von Biografien bieten sich an, die gelegentlich auch persönliche Verbindung zwischen Autor und Person anzudeuten. Das stimmt den Leser schon ein wenig ein und wirft mitunter auch ein Licht auf die Polarisation der Autorenbrille. Die Autorin des vorliegenden Buches lässt den Leser in der Einleitung auch an ihren persönlichen Berührungspunkten zu Strittmatter teilhaben, als DDR-Gymnasiastin über seine Werke, als Biografin bei jüngeren Veranstaltungen zu dessen Rolle in den politischen Systemen des letzten Jahrhunderts. Aus der Distanz und mit Inneneinsicht in die DDR isoliert die Autorin diesen Faden, der in vielen biografischen Geweben anzutreffen ist: "Zweifellos ähnelt der Lebensweg von Erwin Strittmatter bis in die fünfziger Jahre hinein dem vieler Angehöriger seiner Generation in Deutschland. Sie waren auf die eine oder andere Weise in die Verbrechen des Dritten Reiches verstrickt, waren mitgelaufen, hatten mitgemacht oder weggeschaut - sei es aus Überzeugung, sei es aus Angst. Nach 1945 bekamen sie auch in der DDR die Chance, noch einmal neu anzufangen, es besser zu machen, und der Eifer für das Neue half ihnen, die Vergangenheit weit von sich zu rücken, sie zu leugnen oder sich ihrer nur unter dem Aspekt der 'Läuterung' zu erinnern." Und weiter: "Auf ihrem Aufbau-Aktivismus, ihrem antifaschistischen Gedenk-Eifer, verbunden mit der Übereinkunft des Schweigens, gründete sich die DDR. Sie zerfiel, als diese Generation sich in den Ruhestand verabschiedete, und gleichzeitig stand damit auch der bisherige Umgang mit der NS-Vergangenheit zur Disposition." Bei Strittmatter selbst hörte sich das so an: "Aber bei der Unbeständigkeit meines Vorlebens schiele ich mit einem Auge immer nach dem Schicksal - wie die Hühner nach dem Habicht - und kann nicht glauben, dass die gegenwärtigen Verhältnisse bei mir wirklich von Dauer sind."

Das Buch folgt im Wesentlichen der Chronologie, hält jedoch auch gelegentlich thematische Verdichtungen bereit, die insgesamt dem Verständnis dienlich sind. Wenn es das Thema erfordert, so tritt die Autorin vereinzelt als Ich-Erzählerin auf, um Eindrücke aus Interviews zu einzelnen Aspekten zu präsentieren. Das ist inmitten von Biografien schon recht ungewöhnlich, doch diese Vorgehensweise bereichert das Buch. Man möchte das nicht in jeder Biografie antreffen, aber es unterstreicht im Falle Strittmatters die Schwierigkeiten bei der Suche nach Hintergründen.

Die Recherchen zu dem Buch brachten die Autorin auch in Kontakt mit Söhnen Strittmatters, die ihr nach anfänglichem Zögern Einblick in den umfangreichen Nachlass gewährten, der in dieser Biografie erstmalig ausgewertet ist. Sie findet dies sehr mutig, "denn letztlich können sie nur darauf vertrauen, dass ich mit dem Material sachlich und behutsam umgehen werde. Was die Öffentlichkeit nach dem Erscheinen des Buches daraus machen wird, darauf hat niemand von uns Einfluss." "Sein Werk ist so groß, es wird das aushalten", meinte einer der Söhne.

Strittmatters Zeit im Dritten Reich bleibt nach wie vor faktisch weitgehend im Dunkeln. Bei welcher Einheit er wo war, ist bekannt. Was die jeweils anrichtete, auch. Doch Strittmatters Verstrickung bleibt im Dunkel der Geschichte, auch wenn er behauptete, in vier Kriegsjahren (zwischen 1941 und 1945) keinen Schuss abgegeben zu haben.

In der DDR liegen die Dinge anders, denn dort fand er seinen Platz. Er wurde immerhin 1. Sekretär des Schriftstellerverbands, lobte Gorki und Tolstoi, wetterte gegen Kafka, Proust, Musil und Hemingway. Anno 1961 zog er sich aus dem Funktionärsleben zurück. Doch erst vor dem Hintergrund seines in den 1980er-Jahren geäußerten politischen Credos nimmt sein Handeln Gestalt an: Sozialismus ja, aber ohne Stalinismus. Vielen Intellektuellen schwebte nach dem Fall der Mauer dieser Weg vor: Lasst es uns noch einmal versuchen, doch ohne SED und ohne MfS.

Man muss, so lehrt es diese Biografie, ihn gleich dreifach denken: Den offiziellen, den privaten und den literarischen Strittmatter. Und dieser letzte Strittmatter, der literarische, hält oft den Schlüssel für den historischen Strittmatter bereit, gewissermaßen den vierten Strittmatter.

Die Verschränkungen von Strittmatters Biografie mit seinen auf langen Strecken autobiografisch angereicherten Erzählungen machen es schwer, so die Biografin, Dichtung und Wahrheit voneinander zu trennen. Strittmatter wäre nicht der erste Autor, der die Untiefen der eigenen Vita auf diese Art aufarbeitete. Im Werk, so die Autorin an anderer Stelle, zähle ohnehin die Essenz des eigenen Lebens. Seine Kindheit und Jugend zwischen dem Dorf Bohsdorf und der Kreisstadt Spremberg, zwischen Familie und Gymnasium, kann man in nuce seinem wohl berühmtesten Werk "Der Laden" entnehmen, inklusive des gymnasialen Scheiterns.

"Der Laden" spielt sicherlich eine Sonderrolle, nicht nur hinsichtlich Strittmatters Leben, auch literaturgeschichtlich sucht er Seinesgleichen. Das ehemalige Familienanwesen in der Lausitz war Strittmatters Realität bis Anfang der Dreißigerjahre, es bildete den Rahmen einer beeindruckenden Verfilmung und kann heute noch besichtigt werden, getragen von einem emsigen Verein. Doch auch "Der Wundertäter" birgt in seiner Entstehung noch die eine oder andere Überraschung. Mit diesem Buch nimmt Strittmatter, der sich lange Zeit im Windschatten der Republik bewegt hatte, in den späten Siebzigerjahren den Kampf mit dem System auf und gewinnt überraschenderweise. Worum geht es? Im dritten Teil des "Wundertäters" schildert er den Kampf eines Schriftstellers mit der Zensur. Kann das eine Zensurbehörde, wie sie in der DDR üblich war, durchgehen lassen? Sie wägt ab, die einst allmächtige Zensurbehörde, denn sie ist sich der Stärke der Autoren bewusst und glaubt am Ende, sich nicht ohne öffentliches Getöse mit dem ungemein populären Strittmatter anlegen zu können - mit dem Segen Honeckers! Die DDR begann bereits zehn Jahre vor dem Mauerfall zu erodieren - unter tätiger Mithilfe von Strittmatter.

Das Verstricktsein, das vielleicht auch Korrumpiertsein, das Gebrochene seiner Vita macht ihn für uns Heutige so interessant. Denn nur Wenige besitzen die Kraft zum Heldenleben, zur unbedingten Geradlinigkeit. Mit dem eigenen Alter stellt sich hier gelegentlich ein gewisses Verständnis ein, das aber auch verdient sein will. Man kann vielleicht sagen, dass sich kaum ein Literatenleben besser eignen dürfte, seine eigenen Standpunkte daran zu messen und gegebenenfalls auch zu überdenken.

Diese ungemein lesenswerte Biografie lotet die Untiefen in Strittmatters Leben aus und macht dadurch am Ende den Weg frei zu seinem Opus, indem sie Strittmatters Vita mit dem Werk verzahnt. Obwohl das Jahr 2012 eine ganze Reihe literarischer Jubiläen bereithält und die Zeit gewissermaßen drängt, kann dieses Buch durchaus dazu verleiten, sich etwas intensiver mit Strittmatter auseinanderzusetzen,  denn mit einem Fokus auf die einfachen Menschen hat er ein Jahrhundert dokumentiert, das Leben der Menschen in den Zwängen ihrer Zeit.

Lassen wir am Ende Michel Foucault sprechen: "Das Werk eines Schriftstellers sind nicht einfach seine Bücher, das, was er publiziert; sein Hauptwerk ist letztlich er selbst, der seine Bücher schreibt. Das Leben einer Person und ihr Werk hängen zusammen, nicht weil das Werk das Leben 'übersetzt', sondern weil es das Leben genauso wie den Text umfasst. Das Werk ist mehr als das Werk: Das Subjekt, das schreibt, ist Teil des Werkes."

Was bleibt noch? Dass die Autorin inmitten des Buches gelegentlich persönlich in Erscheinung tritt, wurde bereits erwähnt. Doch ganz originell ist es, in dem abschließenden Kapitel "Was bleibt noch?", gewissermaßen vor den Augen des Lesers die unerledigten Zettel durchzugehen, das, was nirgendwo hineinpasste. Der Rezensent hat auch noch einen Zettel; auf dem steht der Name Eva Strittmatter. Eigentlich sei sie Co-Autorin seiner Werke gewesen, schreibt Annette Leo. So gründlich arbeitete sie mit ihm seine Werke durch. Eine großartige Frau, die sich und ihr literarisches Leben ganz in den Dienst Erwin Strittmatters stellte.

(Klaus Prinz; 07/2012)


Annette Leo: "Erwin Strittmatter. Die Biografie"
Gebundene Ausgabe:
Aufbau Verlag, 2012. 447 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
Aufbau Digital, 2012.
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Weitere Buchtipps:

Erwin Strittmatter: "Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954-1973"

Strittmatter nannte seine Tagebücher eine "kleine Heimat". Er wollte mit ihnen eine "zweite Spur" seines Lebens legen - für die Nachwelt ein Glücksumstand. Akribisch notierte er in 235 Heften sein "Tagwerk" sowie Erlebnisse, Begegnungen und Naturbeobachtungen. Beeindruckend ist, wie Strittmatter sich zum kritischen Kommentator der Zeitereignisse entwickelte. Die wachsende Kluft zwischen Anspruch und Realität in der DDR-Politik ließ ihn vom prinzipiellen Befürworter zum unabhängigen Denker werden, der sich vom Marxismus abwandte. So schonungslos, wie er Andere beschrieb, so streng war er auch mit sich selbst. Weder verschwieg er seinen Hang zum Jähzorn noch die Verzweiflung beim Schreiben. (Aufbau Verlag)
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Erwin Strittmatter: "Der Laden I"

"Die Welt ist voller Geheimnisse. Wenn ich älter bin, werde ich sie ergründen."
Ein folgenschwerer Tag ist jener 15. Juni 1919 für Esau Matt: Die Familie zieht um, von einem Niederlausitzer Heidedorf in ein anderes, nach Bossdom. "Brod-, Weissbäckerei, auch Colonialwarenhandlung" steht über dem Laden, den die Eltern mit nichts als Geborgtem erworben haben. Von nun an wird Esau Bäckersch Esau sein und bleiben, und der Laden wird tyrannisch in den Familienfrieden eingreifen.
"Seit mein Buch Der Laden erschien, wird in meiner Heimat nachgeforscht: Wer ist wer? Und man kommt dabei zu falschen Schlüssen und behauptet, ich hätte diesem und jenem und solchen etwas angedichtet, was sie nicht getan haben. Und sie bestehen darauf, daß sie die im Roman vorkommenden Leute erkennen, vor allem sich selber. Und es kommen Leserbriefe, in denen angefragt wird, wieviel Prozent von dem, was ich aufschrieb, auf Wahrheit beruht, und wieviel Prozent erdichtet, um nicht zu sagen erlogen, sind. Ich antworte diesen Lesern hiermit: Wahrlich, ich sage euch, dieses Buch da und dieses Buch hier enthalten neunzig Prozent Wahrheit und zehn Prozent Erlogenes. Ich sage absichtlich Erlogenes, weil jene Leser den Unterschied zwischen Dichtung und Lüge nicht anerkennen." Erwin Strittmatter. (Aufbau Verlag)
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Erwin Strittmatter: "Der Laden II"
In der Souterrainwohnung der Pensionseltern sehnt sich Esau Matt die Woche über nach seinem Niederlausitzer Heidedorf. Der ewige Familienstreit um den Laden kommt in seinen Träumen nicht vor. Nun gehört Esau nicht richtig zu Bossdom und nicht richtig zu Grodk - bis das Motorrad kommt, mit dem er in die verlottertste Zeit seines Lebens hineinbraust.
"Es gibt keine Zeit, in der nichts geschieht, denn geschähe nichts, gäbe es keine Zeit, aber beim Erzählen wird die Chronologie zum Mistbeet für Langeweile. Ich will euch nicht langweilen und verzichte auf Chronologie. Ich durchforsche jene meiner Erlebnisse, die mir zu erklären scheinen, wer ich bin. Wenn ihr meint, daß ich das eine oder andere meiner Erlebnisse überbewerte, daß mein Bericht darüber euch nichts gibt, wie die moderne Redewendung lautet, so blättert weiter." Erwin Strittmatter. (Aufbau Verlag)
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Erwin Strittmatter: "Der Laden III"
"Ob Sommer, ob Winter, ob Krieg, ob Frieden - das Merkwürdige ist stets unterwegs."
Es würde Land verteilt, hatte die Mutter geschrieben, und Esau Matt ist wieder nach Bossdom gekommen. Um fast zwei Jahrzehnte sind alle älter geworden, und ein Weltkrieg liegt hinter ihnen. Von neuem ist Esaus Leben mit den Schicksalen der Bossdomer verbunden.
"Immer wieder versuche ich zu ergründen, ob das Erzählen eine üble Angewohnheit oder eine Krankheit von mir ist, ob mich das Leben, von dem ich ein Teil bin, ausersehen hat, sich durch mein Geplapper selber darzustellen, ob ich beim Erzählen etwas herausfinden oder hervorkehren soll, was beim Dahinleben übersehen werden könnte - das wäre mir der günstigste und liebste Grund." Erwin Strittmatter. (Aufbau Verlag)
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Erwin Strittmatter: "Ole Bienkopp"
Strittmatters Ole - ein Visionär.
"Ole Bienkopp" zählt zu den schönsten und wichtigsten Strittmatter-Romanen, nachdem er in den 1960er-Jahren für heiße Diskussionen sorgte, weil sein Held politisch nicht opportun war. Ole trifft auf Vorurteile, Verrat und Neid, als er seinen Traum von der gerechten Welt verwirklichen will.
Am schmerzhaftesten treffen ihn die Unvernunft und der Buchstabengehorsam derer, die er zu den Gerechten zählte. Voll Trotz und Zorn tritt Ole gegen die Bürokraten an. (Aufbau Verlag)
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Irmtraud Gutschke: "Eva Strittmatter. Leib und Leben"
Ein erzählter Lebensroman.
Gerade weil Eva Strittmatter in ihren Gedichten bekannte, was Andere in sich vergruben, erreichte sie ein Millionenpublikum. Mit der gleichen Offenheit erzählte sie im Dialog mit Irmtraud Gutschke von ihren persönlichen Erschütterungen, ihren Erfahrungen in der DDR, vom Entstehen ihrer Gedichte und natürlich immer wieder von ihrer Ehe mit Erwin Strittmatter. (Aufbau Verlag)
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