Heinrich Steinfest: "Das himmlische Kind"
Dieser Roman von Heinrich
Steinfest, der sich bisher eher aufgrund von eigenwilligen
Kriminalromanen und deren schrägen Figuren einen Namen gemacht hat,
ist eine lange und anspruchsvolle Hymne an die Macht, die Kraft und
die Magie von Geschichten sowie ein eindrucksvolles literarisches
Dokument dessen, welche unglaublichen Wunder sie vollbringen können.
Miriam, die Protagonistin des Romans, ist zwölf Jahre alt. Sie lebt mit
ihrem kleinen Bruder Elias, der noch in den Kindergarten geht, und ihrer
Mutter zusammen. Der Vater lebt nach der Trennung von der Mutter nicht
mehr bei der Familie.
Schon lange spürt Miriam, ein kluges und feinfühliges Mädchen, dass mit
ihrer Mutter Veränderungen vor sich gehen. Seit Monaten zieht sie sich
in sich zurück, redet kaum noch mit ihren Kindern. Miriam weiß noch
nicht, was eine
Depression
ist, aber sie sieht und spürt jeden Tag, wie sie sich auf Kinder
auswirkt, wenn die Mutter darunter leidet.
Eines Tages sagt die Mutter zu ihren Kindern: "Macht euch fertig,
wir fahren aufs Land." Mehr Informationen gibt es nicht. Miriam
hilft ihrem Bruder Elias: "So leicht sich Miriam in fast allem tat,
so schwer fielen ihrem Bruder manche Dinge. Er war ein Stolperer,
einer von diesen Menschen, die sich selbst im Weg zu stehen schienen,
die auch ohne Behinderung sich behinderten. Weder war er
zurückgeblieben noch eingeschränkt, sondern nur tendenziell
ungeschickt und daraus resultierend ein bisschen langsam."
Sie hilft ihm beim Anziehen und mahnt ihn, auch sein Zebra und seine
"Pokémon"-Hefte nicht zu vergessen. Das Zebra, das auch den Buchumschlag
ziert, war schon Miriams Spielzeug
gewesen. Als sie sechs Jahre alt war, brach ein Bein des
Kunststoffzebras ab, und eigenhändig hatte sie damals ein Ersatzbein
gefertigt. Elias hatte dann ohne Kommentar irgendwann Miriams Spielzeug
übernommen und nahm das lädierte Zebra überall hin mit.
Die beiden Geschwister setzen sich im Auto auf die Rückbank. Die Mutter
fährt schweigend los. Irgendwann möchte sie, dass die Kinder aus jeweils
einer Flasche, die sie nach hinten reicht, das sonst verpönte "Coca-Cola"
trinken. Auch die Mutter trinkt aus einer Flasche in kräftigen Zügen.
Miriam kommt das alles sehr seltsam und widersprüchlich vor, und eine
Ahnung sagt ihr, nicht zu trinken. Sie lässt, ohne dass die Mutter es
bemerkt, den Inhalt ihrer Flasche und auch den großen Rest der Flasche
ihres Bruders, der nur ein paar kleine Schlucke genommen hat, auf den
Boden des Autos fließen.
Das rettet den beiden Kindern das Leben. Denn die lebensmüde Mutter, die
kurz danach das Auto in hoher Geschwindigkeit in einen See lenkt, hatte
dem Getränk ein sedierendes Mittel beigefügt, damit sowohl sie als auch
ihre Kinder ohne Bewusstsein ertrinken sollten. Doch Miriam gelingt es,
sich selbst und ihren Bruder aus dem in die Tiefe versinkenden Auto zu
retten und an Land zu bringen.
Es ist kalt und beginnt zu schneien. Sehr schlechte Bedingungen für zwei
frierende und nasse Kinder, ihr Überleben zu sichern. Doch Miriam findet
eine Hütte im Wald.
Mit einer für eine Zwölfjährige überraschenden Klarheit und Ruhe weiß
sie genau, was zu tun ist. Sie beginnt ihrem kleinen Bruder eine
märchenhafte Geschichte zu erzählen, die sie sozusagen im Erzählen
erfindet und immer weiter ausschmückt. Elias, der bald hohes Fieber
bekommt, treibt mit seinen Fragen eine Geschichte immer weiter, die ihn
am Leben hält, "weil es einfach so ist, dass man nicht sterben kann,
wenn man wissen will, wie es weitergeht. Und wie es ausgeht."
Auch der von der Geschichte der beiden Kinder ebenso wie von Miriams
erfundener Überlebensgeschichte gleichermaßen faszinierte Leser kann
nicht ruhen, mit den beiden Kindern mitzufiebern und zu hoffen, dass sie
überleben werden.
(Winfried Stanzick; 11/2012)
Heinrich Steinfest: "Das himmlische Kind"
Droemer Knaur, 2012. 320 Seiten.
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Heinrich
Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart sind die
Lebensstationen des preisgekrönten Kriminalautors, welcher den
einarmigen Detektiv
Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem "Deutschen Krimi Preis"
ausgezeichnet, erhielt den "Stuttgarter Krimipreis 2009" und den
"Heimito-von-Doderer-Preis".
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Das grüne Rollo" zur
Rezension ...
"Die
Haischwimmerin"
Meisterpolizistin Lilli Steinbeck hat eine Vergangenheit namens Ivo. Als
Ivo durch einen rätselhaften Auftrag aus seinem beschaulichen, aber
lillilosen Leben als Baumheiler gerissen wird, bekommt diese
Vergangenheit plötzlich Gegenwart eingehaucht. Ivo soll für ein
Pharmaunternehmen einen Baum aus der sibirischen Tundra
holen. Der Auftrag führt ihn in eine unterirdische Verbrecherrepublik -
und vielleicht brauchte es genau diesen Umweg, damit Ivo Lilli noch
einmal begegnen könnte. (Piper)
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"Wo die
Löwen weinen"
Stuttgart, anno 2010: Ein Archäologe wittert die große Chance bei
Probebohrungen im Schlossgarten. Einen Durchschnittsbürger macht die Wut
über die Mächtigen zum Scharfrichter. Ein Münchner Kommissar kehrt -
widerwillig, aber auf der Spur eines heiklen Falles - in seine
schwäbische Heimatstadt zurück. Und ein rätselhafter Hund, der
eigentlich nur sitzen kann. Sie alle führt das Schicksal mitten in die
Bodenlosigkeit eines umkämpften Großprojekts. (Piper)
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