Raoul Schrott: "Das schweigende Kind"


Eine literarische Beichte?
Ein Mann erzählt.


Er erzählt seiner nicht anwesenden Tochter die Geschichte seines Lebens. Der Mann ist todkrank, verbringt seine letzten Tage, Wochen, Monate in einer Nervenheilanstalt und wird bald sterben. Die Tochter kennt er kaum.
Schnell erkennt der Leser, dass es hier um mehr geht. Hier dient möglicherweise ein Kriminalfall als Hintergrund, als Ausgangspunkt für diese Erzählung.

"Erzählenswert ist wohl nur Wirkliches. Um dir jedoch die Wahrheit sagen zu können, muss ich Zeugnis alles Falschen ablegen."
Raoul Schrott führt den Leser bedächtig durch diese Beichte, die der Vater auch aus therapeutischen Gründen nutzen will, um seiner Tochter ihm wichtige Punkte klarzustellen. Der Vater beichtet seiner Tochter viel, vielleicht zu viel, auch dass er, der auf Abstand gehaltene Vater, eindeutig nach dem Leben der Mutter getrachtet hat.

Der Autor, der mit dem wunderbaren Prosawerk "Finis Terrae" seinen Durchbruch hatte, erweist sich auch in diesem Roman als Meister des Stils. Es gibt nicht viele deutschsprachige Autoren, die Sätze von dieser Qualität und Ausdruckstärke bilden können. Lobenswert auch, dass sich Schrott, zumindest im Ansatz, dem Thema der an der traditionellen und mittlerweile eigentlich längst nicht mehr tauglichen Rechtsprechung scheiternden Väter annimmt.

Klug und vorsichtig umschifft Schrott die Klippen der Genauigkeit in dieser Erzählung. Man vermutet, dass der Vater bereits alt, das Kind aber eindeutig erwachsen ist, viel genauer kann man kein zeitliches Raster festlegen. Das stört nicht, im Gegenteil, weil dadurch die Perspektiven stärker verschwimmen können.

Der Vater erzählt seiner Tochter, wie er sich in die Mutter des Kindes verliebt hat, die er als Aktmodell kennengelernt hat, von der Geburt des Mädchens als absolutes Wunschkind, von der zerstörerischen Liebe der beiden, von der sadomasochistisch veranlagten Sexualität zwischen der Mutter und dem Vater, vom Drang, dem Partner weh zu tun, Leid zuzufügen; Leid, das natürlich in diesem Fall auch Ursprung der Lust ist.

In Wahrheit würde der Rezensent gerne eine Lobeshymne anstimmen, käme diese Beichte des Scheiterns nicht so pathetisch und im Selbstmitleid ertrinkend an. Wären da nicht die vielen Klischeemomente, welche die Ernsthaftigkeit dieses Textes doch schwer in Frage stellen.

"Ihr Gesicht verfolgt mich noch immer. Es war nicht schön im klassischen Sinne; vielmehr beeindruckten ihre klar geschnittenen Züge, in denen sich die Abgründigkeit des Lebens zu manifestieren schien. Ihre Mimik jedoch konnte binnen eines Augenblickes zwischen sprühender Offenheit und völliger Verschlossenheit wechseln: als zucke ein Schmerz in ihr auf, der sich in beinah kindliche Hingabe verwandelte. In diesem Punkt logen die Fotografien nicht; sie arbeiteten das Megärenhafte und Missgünstige an ihr ebenso heraus wie ihr vergebliches Aufbegehren dagegen: mit ihr zu sein hieß, in dem schmalen Raum dazwischen zu leben."

Die Mutter, zugleich auch Aktmodell, gewalttätiges, labiles, lüsternes, eifersüchtiges, männerfressendes Ungeheuer, quält den Maler und Vater, lässt das Entstehen der gemeinsamen Familie nicht zu und nicht nur das, sie entzieht dem Kindesvater sukzessive die Tochter, was so weit geht, dass die Tochter schließlich in den Zustand des Schweigens hinübergleitet. Raoul Schrott zeichnet eine Frau, die man seinem schlimmsten Todfeind nicht zur Frau wünscht. Und wenn auch so mancher Mann in dieser Erzählung Züge seiner Exfrau finden mag, eine so geballte Ladung übersteigt einfach die Glaubwürdigkeit des Texts um ein Vielfaches.

Während sich der Vater in seiner Beichte, bewusst oder unbewusst, immer weiter in die Rolle eines Täters, zugleich aber auch Opfers spielt, verschwimmen die letzten Anhaltspunkte. So steht man knapp vor dem in Art eines Epilogs angehängten Brief vor dem Dilemma, dass man nicht genau weiß, was der Autor jetzt eigentlich mit dieser Erzählung will. Die Vermutung, dass Raoul Schrott mit „Das schweigende Kind“ eine Art von Spiel mit dem Leser treibt, liegt nah. Unstimmigkeiten, die bei einem Autor wie Raoul Schrott einfach nicht Zufall sein können.

Welcher Vater würde seiner Tochter beispielhafte Szenen des Intimlebens mit der Mutter des Mädchens erzählen wollen? Dürftig verschleierte Zitate und einige offensichtlich bewusst gesetzte grammatikalische Fehler, die allerdings alle erst zunehmend ab der Hälfte des Romans auftreten, sind für den Rezensenten weitere Hinweise für diesen Gedanken.

Am Ende kippt dann die Inszenierung  der höchstwahrscheinlichen Täterschaft, wenn der Brief eines Freundes des Vaters an den Vater des Anwalts des Vaters an die Tochter geschickt und somit dem Leser zugänglich gemacht wird.

"Das schweigende Kind" ist dicht gezeichnet und löst dank seiner Prosa beim Leser abwechselnd Entzücken und Unverständnis aus. Durch die Verweigerung eines offenen Endes wird dem im Laufe der Erzählung immer dichter werdenden Text leider auch noch eine etwas überflüssige und etwas banale Schlusskadenz aufgesetzt.

(Roland Freisitzer; 07/2012)


Raoul Schrott: "Das schweigende Kind"
Carl Hanser Verlag, 2012. 199 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
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