Annika Reich: "34 Meter über dem Meer"


In ihrem vorigen Roman "Durch den Wind" erzählte Annika Reich von vier Frauen und ihrem Leben. Sie  sind regelrecht unfähig, ihr Leben wirklich in die Hand zu nehmen, für die richtigen und rechtzeitigen Weichenstellungen zu sorgen, sich einfach einmal zu entscheiden. Und so ist es folgerichtig, dass eine von ihnen mit dem achselzuckenden Satz das Buch beendet: "Ich dachte immer, die Dinge klären sich, wenn man älter wird."
Der Roman kreiste in den Dialogen seiner Protagonisten immer wieder um die Spannung zwischen persönlicher Freiheit und dem Wunsch nach Geborgenheit.

Im Roman "34 Meter über dem Meer" löst sich diese Spannung immer wieder wohltuend auf. Es ist die Geschichte von zwei Menschen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten.
Da ist die junge Ella, die gerade ihre Ausbildung beendet hat. Sie ist mit einer mitreißenden Sprechstimme gesegnet und mit der Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die sie sich schon in der Kindheit angeeignet hat. Mit diesen beiden Schätzen bewirbt sie sich bei einem Berliner Radiosender und wird auch sofort eingestellt. Ihre Vorgesetzten sind fasziniert von ihrer Idee, über mehrere Frauengestalten der Geschichte und Gegenwart Beiträge zu produzieren. Ganz gegen die Gepflogenheiten des Metiers bekommt Ella sehr schnell Aufträge zu eigenen Sendungen.

Und da ist Horowitz, ein in die Jahre gekommener Meeresbiologe, der noch niemals am Meer war. Er lebt in einer riesigen Wohnung, die er wie ein Schiff eingerichtet hat und in der noch jedes kleinste Detail etwas mit dem Meer zu tun hat.

Während Ella, die sich gerade in einen jungen Mann namens Paul verliebt hat, aber noch sehr vorsichtig ist, weil sie bei ihm ein Geheimnis vermutet, sozusagen in ihr neues Leben aufbricht, plant Horowitz aus seinem bisherigen auszubrechen.
Horowitz hängt eines Tages einen Zettel an verschiedenen Stellen der Stadt auf:
"Tausche Wohnung! Älterer Herr möchte seine Wohnung tauschen. 6-Zimmer Wohnung in Charlottenburg zu tauschen gegen 2/3 Zimmer, kein Aufpreis, keine Nebenkosten, keinerlei Avancen."

Als Ella auf diesen Zettel stößt, ist sie sofort wild entschlossen, auf dieses Angebot zu reagieren. Sie lernt Horowitz kennen, es kommt zu dem Wohnungstausch.

Auf eine liebevolle und auch literarisch sehr ansprechende Weise begleitet Annika Reich diese beiden Menschen auf ihrem Weg in ein anderes Leben. Dabei geht sie in Rückblenden oft in die Vergangenheit der beiden zurück, um verständlich zu machen, wie ihre Protagonisten zu ihrer jeweiligen Persönlichkeit gekommen sind.

Ella tut sich bei allem beruflichen Erfolg mit ihrer neuen Liebe Paul schwer. Sie ist unsicher, wie nahe sie ihn an sich heranlassen, wie sie ihn in ihr Leben hineinnehmen soll, ohne ihre Freiheit zu verlieren. Hier spielt Annika Reich wieder mit den Polaritäten aus "Durch den Wind".

Horowitz hat da weniger Probleme. Kaum ist er aus seiner großen Wohnung draußen, in der er lebte wie in einem Sarkophag, lernt er gegen den Willen von Ella, die ihre Mutter bisher erfolgreich aus ihrem Leben herausgehalten hat, vor Ellas Wohnung genau diese kennen, und es funkt bei beiden sofort. Es dauert nicht lange, und die beiden sind über alle Berge.

Dem Rezensenten hat das Buch sehr gut gefallen. Annika Reich, selbst 1973 geboren, gelingt es auf eine unterhaltsame und gleichzeitig anspruchsvolle Weise, die Lebensfragen ihrer eigenen Generation zu beschreiben. Sie tut es heiter, mit viel Witz und mit einem melancholischen Unterton, der aber nicht resignativ wirkt, sondern ihr Hauptthema untermalt: die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, ein wirklich authentisches Leben zu führen. Doch sie lässt ihre Figuren genau dies unablässig versuchen, allen Widrigkeiten zum Trotz, und diese Botschaft hat dem Rezensenten Annika Reichs Buch sehr sympathisch gemacht. Bei "Durch den Wind" war man eventuell noch erschrocken über das abgrundtiefe Missverstehen, das sich zwischen den handelnden Personen auftat, und resümierte:
"Je mehr man in seinem Leben, das ist meine Quintessenz, den Gegensatz von Freiheit auf der einen und persönlicher Geborgenheit auf der anderen Seite aufbaut, desto mehr wird man weder das eine noch das andere erleben."

Diesen Gegensatz in seinen Personen aufgelöst, wenn auch nicht gelöst zu haben, ist das große Verdienst dieses schönen Romans.

(Winfried Stanzick; 05/2012)


Annika Reich: "34 Meter über dem Meer"
Carl Hanser Verlag, 2012. ca. 272 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuchausgabe.
Carl Hanser Verlag, 2012.
Digitalbuch bei amazon.de bestellen