Julya Rabinowich: "Die Erdfresserin"
Porträt
einer eigenartigen Frau
Mit einem anfangs sonderbaren Prolog, dessen Logik sich am Ende
herausstellt, beginnt dieser Roman über eine Frau aus dem
Osten, die im Westen ihren Weg
sucht.
Die angehende Theaterregisseurin und Mutter eines offensichtlich
behinderten Kindes Diana hat zumindest einen illegalen Sprung nach
Europa geschafft. Im Rotlichtmilieu arbeitend, lässt sie sich
eines Abends zu einem tätlichen Angriff auf einen Kunden
hinreißen und wird von der Polizei vernommen.
Dianas Glück ist, dass der sie verhörende Polizist
abergläubisch ist und, auch wenn er schon zehn Minuten
spät dran ist, meint, eine gute Tat vollbringen zu
müssen. Er lässt Diana laufen und lädt sie
sogar auf ein Mittagessen ein. Aus dieser Begegnung heraus spinnt die
Protagonistin eine Beziehung, teilweise zusammen mit ihrer Freundin,
die sich als Wahrsagerin ausgibt und Leo gute Tipps gibt, wie er mit
seinem Geld über Diana gutes Karma erlangen kann. So zieht
Diana beim inzwischen offensichtlich frühpensionierten und
kranken, bald auch ans Bett gefesselten Leo ein und teilt auf besonders
eigenartige und abartige Weise sein Quartier mit ihm.
Das geht so weit gut, bis Leo ins Krankenhaus eingeliefert wird und die
Verwandten und Bekannten Leos dem Treiben von Diana ein Ende bereiten.
Das alles erfährt man in einer Art Interview, wobei die Fragen
und Antworten nur ganz kurz gehalten sind, von denen die Protagonistin
dann in ihre Gedanken abschweift. Dabei erfährt man auch von
ihrer desaströsen Beziehung zu ihrer Mutter, zu ihrer
Schwester und ihrem behinderten Sohn, der, in der Ukraine bei der
Mutter abgestellt, nur eine Belastung für Diana darstellt.
Als Gegenleistung für die Beaufsichtigung des Sohnes rackert
Diana im Westen illegal und schickt Mutter und Schwester in
regelmäßigen Abständen die zum Leben
notwendige Unterstützung ins Dorf.
Als der sicheren Bleibe bei Leo ein Ende gemacht wird, dreht Diana
durch und wird offensichtlich in eine Nervenklinik eingeliefert,
wodurch das Interviewsystem von vorher sinngemäß als
Gespräch zwischen dem leitenden Arzt und seiner Patientin zu
verstehen ist.
In der Klinik bemerkt Diana die katastrophale Lage, in der sie sich
befindet, in der sie nur dann ein Dach über dem Kopf hat, wenn
sie krank in der Klinik ist. Sobald sie gesund ist und entlassen wird,
wird sie abgeschoben.
Sie reißt aus und schlägt sich bis
Italien
durch, wo sich der Kreis zum Anfang schließt.
Eine starke Idee, die Julya Rabinowich hier in eine literarische Form
zu bringen versucht. Ebenso wie die Entwicklung der Idee, ist auch der
formale Aufbau ausgezeichnet geglückt. Die Prosa der Autorin
ist möglicherweise teilweise etwas zu gestelzt und abgehoben,
passt allerdings gut zu den immer stärker in den Wahn
abgleitenden Erinnerungen und Gedanken der Protagonistin. Leider gibt
es immer wieder Stellen, an denen sich Rabinowich in Kleinkram
verzettelt und in Befindlichkeitsprosa verkommt, statt einfach mehr
Freiraum für die Erzählung per se zu erlauben.
Dadurch ist das Weiterkommen in diesem eigentlich sehr brisanten und
potenziell sehr spannenden Roman ab ungefähr der Mitte des
Textes teilweise doch recht anstrengend. Alles in allem aber
könnte das, im Zweifel für die Autorin, als
völlige Hingabe in die Gedankenwelt der Protagonistin
verstanden werden und somit auch als voller Erfolg verbucht werden.
Warum soll man als Leser beim Lesen nicht ähnliche, wenn auch
ganz andere Mühen als die Protagonistin erfahren.
Beim Versuch, die moralische und ethische Motivation hinter diesem
Roman zu verstehen, scheitert der Rezensent jedoch leider.
Diana ist eine gefühlskalte, berechnende und unsympathische
Frau, die keine ethischen und moralischen Grenzen zu kennen scheint.
Erklärt wird dieses Verhalten hauptsächlich durch die
unterkühlte Beziehung zu ihrer Mutter und das
ungeklärte Verschwinden ihres Vaters während ihrer
Kindheit, durch die krankhafte Beziehung zur Schwester und das
Sowjetregime, durch die Armut in ihrem Herkunftsland und durch die
mangelhaften und unmenschlichen Einwanderungs- und Asylverfahren in
unserem Land.
Die widerliche Art und Weise, mit der sie Leo ausnimmt und auf
egozentrische Art und Weise, "überleben ist alles", behandelt;
egal wie einfältig, dumm, krankhaft und primitiv er auch sein
mag, und ihn damit immer rascher in seinen Abgrund treibt, nimmt dem
Leser, zumindest diesem Rezensenten, jegliche Empathie für die
Protagonistin. Als Beispiel sei nur eine Szene genannt, in der Leo
Diana Eis holen schickt und Diana Leos Mobiltelefon versteckt und das
Festnetztelefon aussteckt, während Leo, unfähig, sich
zu bewegen, im Bett liegt. Durch dieses Verhalten der Protagonistin
geht leider das Interesse am Verlauf von Dianas wirklich tragischem
Leidensweg, symbolisch für den vieler Frauen aus dem
ehemaligen Osten, die im Westen ihr Glück auf legale und
illegale Art versuchen, komplett verloren, und der Roman führt
sich selbst ad absurdum.
Krankhafte, bösartige und faule Protagonisten sind ja noch
kein Grund zur Sorge, ja schon gar nicht für Kritik, man
siehe, um ein Beispiel in der österreichischen Literatur der
letzten Jahre zu nennen, Lydia Mischkulnigs grandios
bösartigen Roman "Schwestern der Angst",
(siehe Buchtipp am Seitenende), solange man des Autors
Interesse an seinen, wenn auch noch so fehlerhaften Leidenden
spürt. Moral und Ethik ist auch nicht unbedingt ein Kriterium
für einen guten Roman. In "Die Erdfresserin" spürt
man jedoch, wie der ohnehin am Boden liegende Leo nicht ernst genommen
wird, seine Figur ist zu sehr auf seine negativen Seiten konzentriert,
zu sehr wird er als Symbol für das Schlechte, Verachtenswerte
zur Schau gestellt. Dadurch ist das Verhalten der Protagonistin nicht
automatisch sakrosankt, im Gegenteil.
Möglicherweise hat die Autorin auch kein Interesse an der
Empathie ihrer Leser für Diana. In diesem Fall geht das
Konzept perfekt auf.
Die stärksten Momente hat das Buch im dritten Teil, in der
Flucht, der wahnhaften Flucht aus allem, was davor gewesen ist, wenn
endlich die Grenzen zwischen Realität und Wahn soweit
verschwimmen, dass das Grausame, das Schlechte aus dem Blickfeld
verschwindet. Da gibt es plötzlich so etwas wie Hoffnung,
vielleicht auch auf einen Ausweg, wenn er auch nur aus dem eigenen
Verschwinden besteht.
(Roland Freisitzer; 07/2012)
Julya
Rabinowich: "Die Erdfresserin"
Gebundene Ausgabe:
Deuticke, 2012. 236 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
Deuticke, 2012.
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Julya
Rabinowich, geboren 1970 in
St.
Petersburg,
lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist als Autorin
(zahlreiche Theaterstücke), Malerin und Simultandolmetscherin
tätig. Für ihren Debütroman "Spaltkopf"
(2008) erhielt
sie u.A. den "Rauriser Literaturpreis".
Weitere Bücher der Autorin:
"Spaltkopf"
Mischka wurde in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, in einer
russisch-jüdischen Großfamilie geboren. Als sie
sieben Jahre alt ist, erzählen ihr ihre Eltern, dass sie
Urlaub in Litauen
machen. Doch das Flugzeug landet in
Wien.
Mischka muss sich, gespalten zwischen den Mythen ihrer Kindheit und den
Verheißungen des Westens, im Exil einen eigenen Weg suchen.
Rabinowich überzeugt nicht nur durch ihren Sinn für
Komik, sondern auch mit ihrem eigenständigen Stil:
Nüchtern und überzeichnend zugleich beschreibt sie
das Vakuum zwischen den Kulturen, in das einen die Emigration zu
treiben vermag. (Deuticke)
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"Herznovelle"
Eine Frau wird von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht, zu einer
Herzoperation. Die beiden wirken wie Schlafwandler, keiner scheint den
Anderen wahrzunehmen. Nach einer erfolgreichen Operation kehrt sie
schon nach wenigen Wochen nach Hause zurück. Doch schon bald
plagen sie Träume, in denen sie mehr lebt als in ihrem realen
Leben. Sie findet nicht mehr in den Alltag vor ihrer Operation
zurück. Im Krankenhaus begibt sie sich auf die Suche nach dem
Herzspezialisten, ihrem Lebensretter, der ihr Herz
berührt hat. "Herznovelle" ist ein Text über die
große Sehnsucht
nach einem Leben vor dem Tod. (Deuticke)
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"Krötenliebe" zur Rezension ...
Noch
ein Buchtipp:
Lydia Mischkulnig: "Schwestern der Angst"
Als Kinder sind Marie und Renate unzertrennlich. In einer Familie, die
von Verlust und Misstrauen geprägt ist, schafft Renate
für ihre Schwester eine eigene Welt aus der Sehnsucht nach
Unversehrtheit und Glück. Doch dann, Jahre später,
tritt Paul in das Leben der Mädchen und spaltet ihre
vermeintliche Einheit. Von beiden umworben, entscheidet er sich
für Marie - und plötzlich kippt die liebende
Fürsorge Renates in Hass und subtil tobenden Zorn.
Je tiefer der Graben zwischen den Frauen wird, umso
gefährlicher verzerrt sich Renates Blick auf die Welt. Sie
heftet sich dem Paar an die Fersen, verfolgt ihre Schwester,
überwacht sie zuerst aus der Distanz, rückt dann aber
unaufhaltsam näher - bis zur letzten Konsequenz.
In kunstvoller Sprache und mit ungeschminktem Blick nimmt Mischkulnig
die Perspektive Renates ein, eine Perspektive, in der sich
Wirklichkeit
und Paranoia überlagern. (Haymon)
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