Wolfgang Seidel: "Die Weltgeschichte der Pflanzen"


Von der Nützlichkeit der Pflanzen. Eine etwas andere Weltgeschichte.

Ob eine vegetarische Welt eine bessere wäre? Wäre sie friedlicher, weil sie auf die Tötung anderer Lebewesen verzichtet? Wie würde die menschliche Gesellschaft überhaupt aussehen, wenn sie auf Viehzucht verzichtet hätte? Zweifellos hat die Kultivierung von Getreide und Gemüse die Geschichte der Menschheit, wie wir sie kennen, überhaupt erst ermöglicht. Ohne die Nutzbarmachung von Weizen und Gerste im Nahen Osten, ohne Hirse und Reis in China und ohne die Züchtung von Mais in Mittelamerika gäbe es keine Zivilisationen. Aber, was leicht übersehen wird,  sie waren auch Auslöser für Eroberungen und Kriege, für Kolonialismus und Sklaverei, sie wurden zu einem Motor des Welthandels und waren mit ein Grund für Aufstieg und Niedergang ganzer Gesellschaften. Pflanzen als Nahrungs- und Rohstoffressource. Sie dienen der Ernährung, aber auch dem Genuss und Luxus, der Zierde und als Rohstoff der gewerblichen Produktion und Energiegewinnung. Ihre Geschichte ist  untrennbarer Teil der Menschheitsgeschichte und als Wirtschafts- und Kulturgeschichte genauso ereignisreich und abenteuerlich, wie das Buch von Wolfgang Seidel zeigt.

Nehmen wir als Beispiel ein paar der gängigsten pflanzlichen Grundnahrungsmittel wie Getreide, Kartoffel, Äpfel und Zitronen. Wir wissen, dass Getreide, also Weizen, Roggen, Gerste oder Hafer, die älteste Grundlage unserer Ernährung darstellt und mit der Entstehung der Ackerbaukultur im Nahen Osten einherging. Die Kartoffel kam mit Kolumbus aus der Neuen Welt nach Europa, Äpfel stammen zwar von den Wildäpfeln her, kamen aber als essbares Obst erst im späten Mittelalter auf. Und die Zitrone hat genauso wie die Orange ihr Ursprungsgebiet in China. Mit der Frage nach der ursprünglichen Entstehung und Herkunft entsteht eine erstaunliche alternative Kulturgeschichte der Menschheit, die Wolfgang Seidel in seiner "Weltgeschichte der Pflanzen" minutiös und unterhaltsam aufbereitet und durch die Form eines kleinen Lexikons so etwas wie ein Nachschlagewerk zu schaffen versucht.

Anhand der wichtigsten Speise-, Nutz-, Zier- und Heilpflanzen erzählt Seidel diese Pflanzen- und Menschheitsgeschichte, deren Anfang praktisch identisch mit der Geschichte des Getreideanbaus ist. Er beginnt seinen systematischen Streifzug in der "Alten Welt" mit ihren Speisepflanzen, Früchten und Gewürzen, macht eine Reise zu den Pflanzen der "Neuen Welt" und kehrt dann zu den Getränkepflanzen der "Alten Welt" zurück. In weiteren Kapiteln widmet er sich den Heilpflanzen, den Blumen, den Gewebepflanzen, den Industriepflanzen und schließlich den Bäumen. Egal, in welche Pflanzengeschichte man sich vertieft, fast jede hat historisch gesehen eine schwarze Seite. Besonders Produkte, die als begehrte Luxusware für die europäische Oberschicht gehandelt wurden, lagen den grausamsten Epochen der Geschichte zugrunde. Geschätzte zehn bis dreizehn Millionen Afrikaner wurden im Laufe von 400 Jahren für die Bearbeitung von Zuckerrohr, Tabak und Baumwolle in die Karibik und nach Nordamerika als Sklaven verschleppt. Als "atlantischer Dreieckshandel" bekannt, fuhren die mit allerlei Waren (wie Waffen, Tuch, Glasperlen) beladenen Schiffe europäischer Handelskompanien an die westafrikanische Küste, wo die Ladung gegen Sklaven eingetauscht wurde. Danach steuerten die Schiffe die Karibik an, wo vom Erlös der Sklaven landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Rohrzucker, Rum oder Baumwolle erworben wurden. Nicht minder folgenreich entwickelte sich der Handel mit schwarzem Tee für China, das bis ins 19. Jahrhundert ein Monopol auf die Herstellung und den Handel mit Tee besaß. In den britischen Kolonien in Nordamerika eskalierte der Teesteuerstreit zur us-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, während China zur Öffnung seiner Märkte militärisch gezwungen wurde. Schwerwiegend, wenn auch weniger blutig, war im 19. Jahrhundert die durch Europas Gier nach exotischen Pflanzen ausgelöste systematische Sammelleidenschaft, die in den Ursprungsländern mitunter auch zu deren Ausrottung führte. Sogenannte "Pflanzenjäger" schwärmten aus, um im Auftrag europäischer Gärtnereien auf anderen Kontinenten nach neuen Pflanzen zu suchen. Vor allem Orchideen standen an der Spitze der ersehnten Luxusblumen, nach denen in ganz Lateinamerika erfolgreich gesucht und die "geerntet" wurden.

Seidels "Weltgeschichte der Pflanzen" ist ein umfangreiches Werk. Es behandelt laut Verlagsangaben 160 verschiedene Speise-, Nutz-, Zier und Heilpflanzen, ist 560 Seiten dick und ist nach Art eines Lexikons gestaltet. Jeder Beitrag behandelt Herkunft und Geschichte, vermittelt biologisches Wissen und geht sprachwissenschaftlichen Fragen der Namensgebung nach, wenn auch unterschiedlich gewichtet. Da liegt auch der Haken. Denn es ist kein wissenschaftliches Lexikon, und es ist kein verlässliches Nachschlagewerk. Es ist ein ambitioniertes Unterfangen, in der Form eines Lexikons die wichtigsten Kulturpflanzen in ihrer globalen Entwicklung zu erfassen und damit gleichzeitig eine universelle Kulturgeschichte der Menschheit zu schreiben. Da es aber sowohl hinsichtlich des lexikalischen Wissens als auch seiner Interpretation oft mehr vom guten Willen als von fundierten Kenntnissen getragen ist - was ja wohl auch für einen einzelnen Autor ein Ding der Unmöglichkeit ist - bleibt es Stückwerk. Gut gemeint, ambitioniert, mit vielen interessanten Details, aber auch leider mit vielen Ungenauigkeiten bzw. Unzulänglichkeiten und ohne zusammenfassende Betrachtung. Kurze resümierende Essays wären hilfreich und spannend, denn die Pflanzen sprechen nun einmal nicht für sich. Aber trotz aller Mängel, das Buch ist ein interessantes und lehrreiches Puzzle zur Kulturgeschichte der Pflanzen und damit der Menschheit.

Ein Hinweis zum Autor: Wolfgang Seidel ist ein professioneller Sachbuchautor,  routiniert und kenntnisreich, der fähig ist, sich schnell in neue Fachgebiete einzuarbeiten und in schneller Abfolge Bücher auf den Markt bringt. Angefangen hat er 1999 mit einer launigen Regionalstudie "Die Schwaben pauschal", zuletzt versuchte er sich an einer "Weltgeschichte" bzw. an "Alles-was-man-wissen-muss" unter dem Titel "Wann tranken die Türken ihren Kaffee vor Wien?". Vor allem aber beschäftigte er sich mit der Sprache: Er sammelte Zitate, die zu Redewendungen wurden (2011, "Wie kam der Sturm ins Wasserglas?"), ging immer wieder ihren Bedeutungen nach (2009, "Es geht um die Wurst. Was hinter unseren Wörtern steckt", 2006, "Wo die Würfel fallen. Worte, die Geschichte machten",2007, "Woher kommt da schwarze Schaf? Was hinter unseren Wörtern steckt", 2007, "Die alte Schachtel ist nicht aus Pappe. Was hinter unseren Wörtern steckt").
So wie seine sprachkundlichen Bücher keine wirklichen Nachschlagewerke zur Etymologie der deutschen Sprache sind, so sind auch seine anderen Bücher keine wissenschaftlichen Lexika, sondern bereiten sorgsam Fakten auf, die einmal ausführlicher, dann wieder oberflächlicher Informationen von allgemeinem Interesse bündeln.

Mit einem Wort, die "Weltgeschichte der Pflanzen" ist anekdotenreich, unterhaltsam, und wenn auch nicht vollständig, so doch immer aufschlussreich und erhellend, populärwissenschaftlich informativ, und ein lesenswerter Einstieg in die Materie.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2012)


Wolfgang Seidel: "Die Weltgeschichte der Pflanzen"
Eichborn, 2012. 560 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Buchtipps:

Ewald Weber: "Das kleine Buch der botanischen Wunder"
Im Unterschied zu Tieren und Menschen tun Pflanzen offenbar nichts. Wie Zeitrafferfilme jedoch eindrucksvoll belegen, ist ihre scheinbare Passivität nur eine Frage der Geschwindigkeit: Da wird gezankt, wild um sich geschlagen, gedrängelt, sich gestreckt oder auf- und zugeklappt - doch alles mit sachtem Tempo.
Der Botaniker Ewald Weber ist ein kundiger Führer durch dieses Wunderreich der Langsamkeit. Er widmet sich der kleinsten Pflanze, Wolffia microscopica, einer winzigen Wasserpflanze aus Indien, nicht größer als ein Stecknadelkopf, mit der gleichen Aufmerksamkeit wie der höchsten bekanntesten Pflanze, dem 115 Meter hohen Küsten-Mammutbaum aus Nord-Kalifornien, und den Rafflesiengewächsen, die die größten Blüten ausbilden und in den tropischen Regenwäldern Asiens zu Hause sind. Wahre Wunder vollbringen Pflanzen auch bei der Vermehrung: So fliegt der Samen des Kanadischen Berufskrauts bis zu 140 Meter hoch und über 500 Kilometer weit.
Das Buch schließt mit Betrachtungen zum Pflanzenschutz: So erfahren wir, wie die vom Aussterben bedrohte spektakuläre Venusfliegenfalle mit einem Farbstoff geschützt wird, der den Pflanzen die wunderliche Eigenschaft verleiht, unter UV-Licht aufzuleuchten. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen

Peter Thompson: "Der Keim unserer Zivilisation. Vom ersten Ackerbau bis zur Gentechnik"
Pflanzensamen sind meist kleine und unscheinbare Gebilde, die unseren Blicken verborgen sind - nichts als winzige Körnchen. Und doch haben sie unsere Entwicklung und die unserer Gesellschaft bestimmt. Denn nicht nur die wichtigsten Nahrungsmittel sind Samen - man denke nur an Reis, Weizen, Kaffee, Nüsse, Bohnen oder Oliven. Sie sind auch die Basis für Stoffe, Farben und viele andere Dinge unseres täglichen Gebrauchs.
Peter Thompson erzählt die Geschichte unserer Zivilisation als eine Geschichte der Beziehung zwischen Mensch und Pflanzensamen und zeigt uns deren Geheimnisse. Er berichtet beispielsweise wie die Verbreitung von Weizen zur Entstehung von Städten führte und erläutert, welche "Tricks" Samen auf Lager haben, um ihr Überleben zu gewährleisten.
Das Buch schließt mit der aktuellen Diskussion um den Verlust alter Nutzpflanzen, um Gentechnik, Samenbanken und darüber, wem die pflanzlichen Ressourcen der Erde gehören. (Primus)
Buch bei amazon.de bestellen

Wolf-Dieter Storl: "Bekannte und vergessene Gemüse. Ethnobotanik, Heilkunde und Anwendungen"
Unsere alltäglichen Gemüse sind weit mehr als bloße Vitaminspender: Sie sind voller Geheimnisse, bunter Geschichten und Magie, zum Teil finden sich unter ihnen auch kraftvolle Heilpflanzen mit klinisch erwiesenen medizinischen Wirkungen.
50 Gartengemüse, darunter auch seltene und vergessene Gemüse- und Salatpflanzen, stellt Wolf-Dieter Storl, der große Kenner und Erforscher der Heil- und Nutzpflanzen, spannend und gut lesbar vor. Eine einzigartige Verbindung von Gartenbuch, Ethnobotanik, Kulturgeschichte und alten wie auch neuesten medizinischen Erkenntnissen.
Und damit das alles wirklich schmackhaft wird, gibt es zu jeder Pflanze ein einfaches Rezept zum Nachkochen. Neu wird das Buch ergänzt durch die feinsinnigen, künstlerischen Farbillustrationen von Barbara Hanneder. (AT Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Norbert Griebl: "Die heiligen Pflanzen unserer Ahnen. Volksmedizin / Pflanzenzauber / Praktische Anwendung"
Beseelte Pflanzen. In Bäumen und Blumen sieht Norbert Griebl beseelte Wesen mit vielen uns noch weitgehend verborgenen Fähigkeiten.
Schon jetzt hat die Wissenschaft erwiesen, dass sie auf Gefahren reagieren, einander warnen, Hilfe gegen Schadeninsekten herbeirufen und offenbar sogar hören können. Dieses Buch nimmt uns mit in die Welt der beseelten Pflanzen und zeigt uns deren Wesen.
Nicht nur stattliche Bäume auch eine Vielzahl von Blumen waren unseren germanischen und keltischen Vorfahren heilig oder galten als beseelt. Mehr als 90 Pflanzen stellt dieses mit zahlreichen stimmungsvollen Bildern und Makroaufnahmen ausgestattete Buch vor, ihre Rolle in Mythologie und Brauchtum sowie ihre Bedeutung für die Volksmedizin, für Naturkosmetik und in der Küche.
Bei manchen Pflanzen verweisen die Volksnamen immer noch auf die ursprüngliche Bedeutung, etwa beim Alant, einer prächtigen Gartenstaude, die "Odinskopf" oder "Elfenampfer" genannt und bis heute zum Räuchern verwendet wird. Oder bei der Hauswurz, die vielerorts "Donnersbart" heißt, also nach dem Gott Thor/Donar benannt ist und deren Saft wie Aloe vera zur Hautpflege verwendet werden kann. Die Bedeutung der Pflanzen in der vorchristlichen Glaubenswelt zeigt sich auch in manchem Brauchtum - dem Maibaum und der Neun-Kräutersuppe etwa -, ja sogar in christlichen Riten wie der Kräuterweihe.
Interessante Rezepte ergänzen die Pflanzenporträts: Veilchenessig, Leimkraut-Nudeln, Eschen-Verjüngungstee und Felsbirnen-Likör, Wacholder-Massageöl, kandierte Taubnesselblüten, Kopfwehsirup aus Mädesüß und Brennnessel-Bier laden zum Selbermachen ein. (Stocker Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Josh Westrich, Dorothée Waechter: "Zwiebelblumen. Historische Sorten fotografiert von Josh Westrich"
Mit einzigartiger Farbenpracht und großer Leuchtkraft lädt dieser Bildband zu einer Entdeckungsreise in die Welt der historischen Zwiebelblumen ein. Alte Tulpensorten, Schwertlilien, Traubenhyazinthen, Blausterne, Narzissen und Schneeglöckchen sowie zahlreiche bekannte und weniger bekannte Zwiebelblumen werden wunderschön vor hellem Hintergrund porträtiert.
Die einzigartige Qualität der Fotos lässt das Herz jedes Gartenfreundes höher schlagen. Ein Anhang bietet Informationen zu jeder der 50 porträtierten Blütenkostbarkeiten. Dieser Bildband darf einfach in keiner Bibliothek von Blumenfreunden fehlen. (Thorbecke)
Buch bei amazon.de bestellen