Leonardo Padura: "Der Schwanz der Schlange"
Mysteriöse
Zusammenhänge und obskure Machenschaften
Anno 1987 schrieb Paduras
Protagonist Mario Conde eine Reportage über das Leben der
chinesischen Einwanderer im Barrio Chino, dem Chinesenviertel
von Havanna. Die Lebenssituationen dieser Menschen bewegten ihn damals
so stark, dass er sich auch literarisch damit auseinandersetzen musste,
und das Ergebnis dieser Auseinandersetzung wurde dann zusammen mit "Adíos
Hemingway" in einem Doppelband auf Kuba
veröffentlicht. Für die spanische Einzelausgabe, die
auch Vorlage der deutschen Übersetzung ist, hat er die
Geschichte dann noch einmal überarbeitet - wie er selbst sagt:
"Hoffentlich zum letzten Mal."
Auch ein Mario Conde hat einmal Urlaub, und als er sich gerade
dareinfinden möchte, bekommt er Besuch von Patricia Chion,
einer wunderschönen chinesischen Mulattin und Kollegin, nach
der es ihn schon lange gelüstet.
In der chinesischen Gemeinde wurde ein Mann in Art eines
Santería-Rituals getötet, und da Patricias Vater
mit ihm freundschaftlich verbunden war, bittet sie ihn, dem sie am
meisten vertraut, die Ermittlungen zu übernehmen. Er muss
dabei - auf Weisung seines Vorgesetzten - sehr vorsichtig vorgehen,
weil zur gleichen Zeit im Barrio Chino eine verdeckte Ermittlung gegen
den Drogenhandel läuft. Sobald Drogen in seiner Ermittlung ein
Thema werden, soll sich Mario unverzüglich
zurückziehen.
Staunend begibt sich Mario Conde in eine ihm bis dahin fremde Welt,
jene der chinesischen Einwanderer nämlich, und sieht, wie sehr
das sozialistische Brudervolk mit Vorurteilen und Anfeindungen seiner
kubanischen Brüder zu kämpfen hat. Dazu kommt noch
die Idee, dass Knochen von Chinesen besonders wirkungsträchtig
in Santería-Talismanen sein sollen und dass von den Chinesen
eine seltsame sexuelle Macht ausgeht, die sie besonders
rätselhaft macht. Alles in allem ein Ermittlungsfeld, das
Mario Conde so unvertraut ist wie die erdabgewandte Seite des Mondes.
Trotz inhaltlicher Dichte - Situation der chinesischen Einwanderer in
Kuba, Einflüsse verschiedener Richtungen des
Santería-Kults und Marios Liebesleben - wirkt dieser schmale
Band ungewohnt inhaltsarm, und man hat das Gefühl, dass sich
Padura darin seinem Thema eigentlich nicht widmen konnte; aus welchem
Grund auch immer. Weiters fehlt seine übliche sprachliche
Qualität; das heißt, das Buch ist nicht sprachlich
schlecht, aber seine malerischen Darstellungen und Vergleiche, die
ansonsten so viel zur Besonderheit seines Werks beitragen, fehlen hier
eindeutig.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 02/2012)
Leonardo
Padura: "Der Schwanz der Schlange"
(Originaltitel "La cola de la serpiente")
Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein.
Unionsverlag, 2012. 188 Seiten.
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Leseprobe:
Leonardo Padura über "Der Schwanz der Schlange" (Nachwort):
1987 - ich arbeitete als Journalist bei der Zeitung Juventud
Rebelde (Rebellische Jugend) - musste ich für eine
Reportage über das Chinesenviertel in Havanna schwierige
Recherchen durchführen. Der Text mit dem Titel Das
Chinesenviertel. Eine lange Reise diente wenig
später als Vorlage für einen gleichnamigen
Dokumentarfilm unter der Regie von Rigoberto López. Und er
gab auch einem Buch den Namen, in dem ich 1995 eine Auswahl
journalistischer Arbeiten veröffentlichte, die ich
für dieselbe Zeitung geschrieben hatte.
Die Geheimnisse des Chinesenviertels und die Geschichte von
Entwurzelung und Treue zu Traditionen hatten mich so sehr fasziniert,
dass ich - als die Figur des Mario Conde bereits erschaffen und die
ersten seiner Geschichten, Pasado perfecto (1991,
dt. Ein perfektes Leben) und Vientos de
cuaresma
(1993, dt. Handel der Gefühle)
veröffentlicht waren - eine Erzählung schrieb, die in
diesem Viertel Havannas spielt. Der Protagonist dieser Geschichte ist
auch wieder Mario Conde, doch literarisch gehört sie nicht zu
den Romanen, die das Havanna-Quartett bilden, das
in den darauffolgenden Jahren durch Máscaras
(1997, dt. Labyrinth
der
Masken) und
Paisaje de otoño (1998, dt. Das
Meer
der Illusionen) vervollständigt
werden sollte.
Ich hatte jedoch immer das Gefühl, dass die Erzählung
nicht ganz beendet war, und nachdem der letzte Teil des Quartetts
geschrieben und veröffentlicht war, beschloss ich, sie wieder
aufzunehmen und in einen Roman zu verwandeln. Für ihn gilt
dasselbe wie für alle anderen Abenteuer Mario Condes: Alles
ist Fiktion, auch wenn eine große Portion Realität
in ihr enthalten ist. Hinter diesem Fall, der El Conde ins
Chinesenviertel von Havanna führt, steht die Geschichte einer
Entwurzelung, die mich immer bewegt hat: die Entwurzelung der Chinesen,
die nach Kuba gekommen sind (anfangs mit Arbeitsverträgen, die
sie praktisch zu Sklaven
machten), wie so viele heutige "Wirtschaftsflüchtlinge" auf
der ganzen Welt. Einsamkeit, Verachtung und Entwurzelung sind die
Themen dieser Geschichte, die sich in der Realität nicht so
abgespielt hat, sich aber genauso hätte abspielen
können.
Die 1998 geschriebene Erzählung wurde in Kuba - wo man die
Gelegenheiten einer Buchveröffentlichung ergreifen muss, wann
immer sie sich bieten - in einem Band zusammen mit Adiós
Hemingway herausgegeben.
Als ich mich zwölf Jahre später entschloss, meinem
spanischen Verlag Der Schwanz der Schlange zu
präsentieren, veränderte sich das Schicksal dieses
Textes abermals: Es war offensichtlich, dass die Handlung zu geradlinig
geraten war, während die verschiedenen Personen und
Situationen förmlich mach mehr Entwicklung schrien, nach mehr
Tiefe, und der Ton ungezwungener, frecher werden musste, in Einklang
mit den übrigen Romanen, in denen mein Mario Conde die
Hauptrolle spielt.
Was Sie gerade zu Ende gelesen haben - falls Sie es denn zu Ende
gelesen haben -, ist die neue und, wie ich hoffe, letzte Version einer
Erzählung, die mich fünfzehn Jahre lang verfolgt hat,
bis sie zu diesem kurzen Roman wurde, der, ich wiederhole es, nun
hoffentlich seine endgültige Form bekommen hat. Vielleicht
musste es ja so sein, aber während ich an dieser letzten
Fassung schrieb, wurde mir klar, dass es in Havanna
höchstwahrscheinlich keinen einzigen jener Chinesen mehr gibt,
die mich mit ihrem Leben und ihrem Schicksal zu diesem Werk inspiriert
haben.
Mantilla, Januar 2011