Hanns-Josef Ortheil: "Das Kind, das nicht fragte"
Nach seinen beiden
wunderbaren Romanen "Die
Erfindung des Lebens" und "Die
Moselreise" legt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil mit "Das
Kind, das nicht fragte" einen weiteren Versuch der literarischen
Annäherung an die Erfahrungen seiner eigenen Kindheit und seines
eigenen Lebens vor.
Beides waren Bücher über die heilende Kraft der Musik sowie die
lebensrettende Wirkung des Schreibens und der Literatur. Bücher, in
denen Ortheil auf eine besondere Weise, die schon in seinen ebenfalls
autobiografisch geprägten Liebesromanen "Die große Liebe" und "Das
Verlangen nach Liebe" aufschien, mitfühlend vom Leben und von der
Liebe geschrieben hat. Ortheils Romane sind ohne jeden Kitsch und ohne
jedes Pathos Werke, deren wahre Geschichten noch das härteste Leserherz
erweichen konnten.
So ist es auch im Roman "Das Kind, das nicht fragte", in dem er seinen
Protagonisten Benjamin Merz seine Geschichte erzählen lässt. Ein Leben,
das in der Kindheit von Schweigen geprägt war, denn Benjamin ist der
Jüngste in einer Familie, in der die vier viel älteren Brüder den Ton
angeben, nicht nur bei den Mahlzeiten, wobei sich Benjamin meist unter
dem Tisch befindet. Benjamin ist zurückhaltend und schüchtern, traut
sich nicht zu fragen, wo doch sein Kopf und Geist voll von Fragen sind.
Wie Ortheil selbst in seiner Kindheit, gelingt es ihm lange nicht, zur
Sprache, und damit richtig auf die Welt zu kommen. Ortheil selbst hat,
wie er in "Die Erfindung des Lebens" eindrücklich beschrieben hat, über
die Musik
und das Schreiben zur Sprache und zur Welt gefunden.
Seinem Alter Ego Benjamin Merz ist das über seine Berufswahl gelungen.
Als Ethnologe kann er sich in der "teilnehmenden Beobachtung"
selbst zurückhalten und mit seinen Fragen die Menschen zum Reden
bringen. Sein neues Projekt führt ihn nach Sizilien, (an den Traumort
Ortheils), in die Stadt Mandlica. In Wahrheit heißt die Stadt Modica und
war die Geburts- und Heimatstadt des Literaturnobelpreisträgers
Salvatore Quasimodo, dessen Gedichte in diesem Buch eine wichtige Rolle
spielen.
Benjamin Merz mietet sich in einer Pension ein und lernt dort die beiden
aus Deutschland stammenden Schwestern Maria und Paula kennen. Mit seiner
in der Kindheit erworbenen Fähigkeit, sich in andere Menschen
hineinzuversetzen, (weil er ja nicht fragen konnte), gelingt es ihm in
dem Städtchen bald, nicht nur die beiden Schwestern, sondern auch den
Buchhändler, den Betreiber eines Restaurants und bald auch den
Bürgermeister und viele Frauen für sich einzunehmen. Seine ruhige Art
und seine Intuition verschaffen ihm innerhalb weniger Wochen den Ruf
eines Hellsehers.
Ortheil gelingt es, mit der Schilderung von Benjamins Forschungsmethode
und deren Praxis ein sensibles und eindrückliches Sozialporträt einer
sizilianischen Stadt, ihrer Kultur und Traditionen zu zeichnen und das
feine, genau austarierte Netzwerk von Beziehungen und Abhängigkeiten
deutlich zu machen. Man kann den ganzen Roman als eine Hymne nicht nur
an den Lyriker Salvatore Quasimodo lesen, sondern auch als eine
Liebeserklärung an Sizilien, eine Insel, wo das Licht anders ist.
Natürlich geht es auch wieder um die Liebe. Denn Benjamin nähert sich
über die lange Zeit seines Aufenthaltes in Mandlica der zunächst
zurückhaltenden und mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigten Paula an.
Eine zarte Liebe entwickelt sich, die es Benjamin gegen Ende ermöglicht,
zum ersten Mal einem richtigen Menschen seine Geschichte zu erzählen.
Die Grundlage hierzu hatte ein Priester gelegt, als Benjamin in dem
Alter war, das erste Mal zur Beichte zu gehen. Das einfühlsame Gespräch
mit Benjamin schildert Ortheil ausführlich, und man kann es wie ein
kleines Zentrum des ganzen Romans betrachten. Ein Gespräch, in dem der
junge Benjamin lernt, dass er Gott Fragen stellen und die Antworten
darauf in sich selbst finden kann.
"Diese Stunde im Beichtstuhl war die Geburtsstunde meiner Frage- und
Antwortspiele, die ich in schwarze linierte Schulhefte eintrug. Heute
glaube ich, dass sie zugleich der Beginn meiner Leidenschaft für das
ethnologische Fragen und Antworten waren."
"Das Kind, das nicht fragte" ist ein weiterer Baustein in einem Haus
voller wunderbarer Lebens- und Liebesgeschichten, das Hanns-Josef
Ortheil seit langer Zeit für sich baut, in dem wenigstens zeitweise zu
wohnen er die Leser seiner Bücher einlädt.
(Winfried Stanzick)
Hanns-Josef
Ortheil: "Das Kind, das nicht fragte"
btb, 2014. 432 Seiten.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Der Stift und das Papier"
Nach dem Erscheinen seines zweiten Kindertagebuchs "Die Berlinreise“
wurde Hanns-Josef Ortheil häufig gefragt, wie er als Zwölfjähriger ein
derart beeindruckendes Buch schreiben konnte. Dieser Frage ist er in dem
Band "Der Stift und das Papier" nachgegangen. Schritt für Schritt wird
erzählt, wie er sich, begleitet und angeleitet von Vater und Mutter, das
Schreiben beibrachte. Er beschreibt, wie er übte und wie diese Übungen
langsam übergingen in kleine Schreibprojekte, die er sich selbst
ausdachte und verfolgte. Es ist die bewegende Geschichte eines Jungen,
der lange Zeit nicht sprach und der einen eigenen Weg zum Sprechen und
Schreiben suchen musste. Und es ist bei allen Widerständen, die sich in
den Weg stellten, die Geschichte eines Wunderkinds, das früh ein Gefühl
für das Erzählen besaß und das über eine Gabe verfügte, die alle anderen
überstrahlte: beobachten zu können und das Beobachtete traumwandlerisch
in die richtigen Worte zu fassen. (Luchterhand Literaturverlag)
zur Rezension ...
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(Christian)
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Leonardo Sciascia lässt Laurana allen Spuren nachgehen und bringt ihn
dadurch am Ende selbst in Gefahr. (Verlag Klaus Wagenbach)
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