Marcus Neuert: "Moornovelle"
"Ho, ho, meine arme
Seele!"
"Es wird leer um mich herum", schreibt Peer Kehlenbach, der
Ich-Erzähler, und fügt hinzu: "Ich, der gescheiterte Autor." (S.
5) Zu seinem Freund und Verleger Pretenius sagt er am Telefon: "Ich
versuche zu überleben ..." (S. 7), aber "... ich hab einfach
kein Thema." (S. 10)
Doch, er hat ein Thema. Er hat mehrere Themen. Das ist es ja auch, was
die Novelle auszeichnet: Wie die Themen wie aus dem Nichts erzeugt und
miteinander verstrickt werden. Was heißt: aus dem Nichts?
Peer, der Mittvierziger, wird von seiner Frau verlassen. Nun steht er
allein da, wie erschlagen. Er sucht nach Gründen, findet nicht viel
außer: Er konnte nicht mithalten, er bot Anna nur die Aura des Dichters,
mit der sie sich schmücken konnte, aber dann fehlte der Erfolg, der
Durchbruch. Anna lässt ihn fallen, die Ehe dauerte offenbar nur so
lange, wie Annas narzisstische Schwärmerei für einen vorzeigbaren
Dichter dauerte.
In Karlhanns Pretenius hat Peer dagegen einen Freund, der an ihn glaubt
und ihm hilft, das schwer auf Peer lastende Trauma zu überwinden. Er
bringt den Freund in einem Moorhaus unter, wo er wieder zu sich und der
Lyrik finden soll.
Diese Versuchsanordnung funktioniert nach anfänglichem Leerlauf immer
besser - und sie funktioniert eben auch nicht. Die Art, wie Marcus
Neuert diesen komplizierten Prozess der Trauerarbeit und Selbstfindung
seines Helden darstellt, ist höchst subtil und führt auf einen Weg, der
sich am Ende gabelt; der eine Weg führt ins Licht, der andere ins
Dunkel. Aber davon nachher mehr.
Zunächst verliert sich Peer in seiner Trauer, die Verdrängung des
Verlusts gelingt nicht. Peer Kehlenbach macht seinem Namen alle Ehre,
nicht nur abends fließt der Wein durch seine Kehle. So kommt er nicht
zum Schreiben.
Da findet er unter losen Dielen ein Bündel Briefe, die er zögernd liest:
Dort entfaltet sich vor ihm die Geschichte zweier Liebender in den
1950er-Jahren, eine verbotene Liebe, ein Mittvierziger, Familienvater,
Ministerialdirigent in Hannover, Niels Linnenhaupt, der liebt ein
Schulmädchen, das vor dem Abitur steht, es heißt Magda und wird ihm
hörig. Aber die Liebe muss geheim bleiben, weil die gesellschaftlichen
Verhältnisse sie nicht zulassen, aber auch, weil er das ihm total
ergebene Gretchen nur für sein männliches Ego ausbeutet, ohne seine
berufliche Stellung und Ehe gefährden zu wollen, das ist eine alte
Geschichte, sie passiert immer wieder.
Gleichzeitig hat Peer seltsame Gesichte, wenn er am Moorsee spazieren
geht. Ihm kommt es so vor, als sehe er am Ufer eine Gestalt, er kann sie
nicht erkennen, aber er bringt sie mit den Briefen in Verbindung ... und
irgendwie haben die Briefe, die Gestalt, der Moorsee mit ihm zu tun, er
weiß nicht, was. Und Nacht für Nacht erlebt er - als wäre es leibhaftige
Wirklichkeit - Szenen mit einer Frau, die erst verschleiert ist, sich
ihm dann als Magda offenbart und hingibt.
Pretenius besucht Peer, der eine gewisse Kontrolle braucht,
gelegentlich. Er ist sein einziger Halt. Pretenius ist sowieso immer da,
er ist das in Peer präsente Über-Ich, sein alter ego, er nennt es den
kleinen Pretenius, der ständig seine überzogenen Gedanken und
Vorstellungen relativiert.
Angeregt durch die Briefe und Erscheinungen am Moor schreibt Peer
Gedichte, die Pretenius unverhofft reif und groß vorkommen.
Auch der Leser glaubt nun, Peer gelingt die Trauerarbeit und
Selbstfindung, indem er sein Seelendrama in allgemeingültige Gedichte
transformiert. Die nächtlichen Träume wirken wie Bilder seiner Sehnsucht
nach neuer Liebe. Offenbar ist Peer auf dem besten Weg der
Gesundung, ja, das Trauma des Verlassenwerdens scheint ihm sogar zum
dichterischen Durchbruch verholfen zu haben.
Unterstützt wird diese Annahme durch die feine Ironie des Ich-Erzählers,
der sich selbst sehr genau beobachtet; besonders die literarischen
Anspielungen zeigen das, etwa wenn Peer schreibt: "Meine Ruh ist hin
..." (S. 31), denn sein Herz ist schwer, oder wenn er am See
steht, da fällt mir Goethes Ballade vom Fischer ein, nur dass Peer in
anderer Weise angezogen wird vom See und anders hinsinkt als der
Fischer, denn Peers Nixe ist keine leibhaftige Frau, sondern eine
vertrackte Selbstverführung im eigenen Kopf. Die Empathie und
Identifizierung mit Magda wird immer stärker und nimmt schließlich
pathologische Züge an - wenn er etwa glaubt, "Magda ... beginnt
dreidimensional zu werden." (S. 33) Er hört sie nachts sprechen:
Komm! Er soll sie retten ...
Während Pretenius Peers Gedichte liest, hackt dieser Holz: "Mein
Schädel scheint auf den Haublock gelegt zu sein. Kopf ab und Schluss,
das wäre auch eine Alternative. Aber man kann sich nicht enthaupten,
zumindest nicht in dieser Versuchsanordnung." (S. 60) Das ist
doppelt ironisch: Pretenius kann seine Gedichte zerhauen - und
andererseits ist das eine sanfte Anspielung auf eine denkbare
Selbsthinrichtung. Diese aber wird immer unwahrscheinlicher, denkt der
Leser, denn die Gedichte sind gut, und die nächtlichen Erscheinungen
werden schwächer. Denn Magda sagt ihm: "Ich habe meinen Frieden
gefunden bei dir ..." (S. 74)
Diese nächtlichen Szenen - in denen ein anderer Erzähler auftritt, der
in der dritten Person berichtet, wo Peer wie eine Kamera über sich
selbst schwebt und sich beobachtet wie in Sterbevisionen - bilden eine
zweite Erzählebene, die Briefe Magdas an Niels eine dritte. Sie stehen
miteinander in einem dialektischen Verhältnis. Die Nachtszenen und
Briefe spiegeln Peers Seelendrama.
Peer erkennt immer mehr: Seine Wahrheit findet er nicht in den Briefen,
sondern nur in sich selbst. In den Gedichten findet er sich!, denkt der
Leser. Ja, Lyrik macht bewusst, und das erkennt Peer (S. 76):
"Das Gedicht ... lotet aus, erforscht jeden Winkel. Aber es wünscht
nichts und vor allem: es heilt nichts, im Gegenteil. Je besser es
gemacht ist, desto tiefer stößt es dich hinein in Leid oder Genuss,
ins Irrationale. Vielleicht ins Vermeidbare. Vielleicht auch ins
Schicksal, wer weiß das schon so genau. ... Meine Gedichte werden
meine Zeit mit Magda. Meine Zeit mit Magda wird Gedicht. Und ich
spüre, nein: ich weiß, dass es mich künstlerisch voranbringen wird.
Aber dieser Vorgang hat einen hohen Preis, ich bezahle mit der
schrittweisen Aufgabe dessen, was man oberflächlich als Realität
bezeichnen könnte." (S. 76)
Peer sieht auch die Gefahr: "... immer öfter schwimmen mir Lyrik und
Liebe, Alltag und Traum ineinander, und instinktiv ahne ich, dass dies
kein Dauerzustand werden darf - irgendwann wird der Punkt
überschritten sein ..." (S. 78)
Lyrik
kann, wie der Traum, schützender Kokon sein, um der Realität nicht
ausgeliefert zu sein, sie kann auch - und diesen Weg geht Peer leider
nicht zu Ende - zu Erkenntnissen führen und neue Realität eröffnen, wenn
die Wunden der Vergangenheit akzeptiert werden.
So ist Marcus Neuerts Erzählung auch eine Geschichte über das
Wechselspiel von Leben und Dichtung, Dichtung und Wahrheit. Die
Unerhörtheit der Novelle zeigt sich in den fantastisch-romantischen
Nachtstücken, die in Peers Leben hineinwuchern, bis er ohnmächtig wird
und - genau im Moment möglicher Überwindung! - untergeht. Die Bilder
seines Seelentheaters und Genesungsprozesses, die Freundschaft
Pretenius' und die Traumarbeit der Nachtszenen versagen am Ende.
Zwar hat sich Peer aus dem Weinkellerleben immerhin in die Küche
hinaufgearbeitet, er weint sogar, aber auch diese kleine Katharsis
rettet ihn nicht. Im zwölften und vorletzten Kapitel überfällt ihn
wieder ein Alptraum, seine neue Droge, diesmal aber nicht nachts,
sondern am helllichten, wenn auch trüben Tag, und er wird dabei real
Handelnder. In übermächtiger Identifikation mit Magda, eine
Verschmelzung von Fausts
Gretchen und Maria
Magdalena, versinkt er nolens volens im Moor des Seeufers, als
sühne er für alles, was der feige Liebhaber Magda angetan hatte, die in
Peers Wahnvorstellung mit dem leblosen Bild ihres Geliebten in den See
ging. Und dies ist das eigentlich unerhörte Ereignis.
Hier hätte die Novelle enden können. Ob Peer wirklich im Moor versank,
oder ob auch dies nur als Bild zu verstehen ist, hätte offen bleiben
können.
Aber es folgt ein letztes Kapitel, in dem Petrenius zum (nunmehr
dritten) Erzähler wird und der Geschichte noch ein gewagtes Surplus
aufsetzt, indem Peers Fantasterei ins Reich des Pathologischen verbannt
wird. Nur seine Gedichte als Ergebnis eines allgemeingültigen
Erkenntnisprozesses überleben, Petrenius wird sie veröffentlichen. Darin
kann der Leser doppelte Ironie sehen: Solche Gedichte gibt es nicht. Die
Wirklichkeit ist viel zu komplex, als dass sie begriffen werden könnte.
Und ich denke an Peers Seele, der im Leben ihr göttlich Recht | Nicht
ward, sie ruht auch drunten im Moorkus nicht; | Doch ist ihm das
Heilige, das am | Herzen ihm lag, das Gedicht, gelungen. | Willkommen
dann, o Stille der Schattenwelt!
Alles in allem: Eine subtile, ernste wie heiter-ironische, sprachlich
und strukturell brillant dargebrachte, spannende Erzählung.
(Ulrich Bergmann; 11/2012)
Marcus Neuert: "Moornovelle"
Free Pen Verlag, 2012. 94 Seiten.
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Ein Lektüretipp:
Heinrich Thies: "Das Mädchen im
Moor"
Der Gymnasiallehrer Mathias Mahnke wird für den Mord an seiner Schülerin
Annika zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Als Mahnke nach 17
Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, setzt er alles daran, seine
Unschuld zu beweisen - vor allem mit Blick auf seinen Sohn Sören. Mit
Hilfe einer Journalistin müht sich der frühere Lehrer, Licht in den
mysteriösen Mordfall in einem Moorgebiet in der Lüneburger Heide zu
bringen. Wer tötete Annika? Was geschah am Ufer des Grundlosen Sees?
Was verschweigen Annikas frühere Mitschüler? Die Ermittlungen wühlen die
Kleinstadt Walsrode auf und ziehen weitere Verbrechen nach sich. Der Mord an
Annika verfolgt die Beteiligten von der beschaulichen Löns-Landschaft in
der Heide bis zum Timmendorfer Strand. (zu Klampen!)
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