Adam Zamoyski: "1812"

Napoleons Feldzug in Russland


"Und wenn auch die  Franzosen den Feldzug insgesamt verloren, konnte man kaum behaupten, dass die Russen ihn gewannen."

Zamoyski beginnt seine Geschichte des Russlandfeldzugs Napoleons mit einem Knalleffekt, wenn er eingangs klarstellt, dass dieser Krieg - entgegen dem Mythos vom "Vaterländischen Krieg" - keinen Sieger kannte. Und in der Tat: Binnen eines halben Jahres kamen mindestens eine Million Menschen ums Leben, wobei es nur zu den Soldaten halbwegs verbürgte Opferzahlen gibt, hunderttausende Pferde verendeten auf qualvolle Weise, unzählige russische Ortschaften, vom Dorf bis zur großen Stadt, wurden in Schutt und Asche gelegt, Existenzen Sonderzahl ruiniert, zahllose Kriegsteilnehmer, wenn sie auch mit knapper Not überlebten, für immer verstümmelt - es war ein Desaster von apokalyptischer Dimension. Militärisch war die Grande Armée - die Hauptarmee des Imperators - zwar siegreich und selbst noch im größten Elend ungeschlagen geblieben, doch war mit dem insgesamt unglücklichen Verlauf der Kampagne Napoleons Nimbus der Unbesiegbarkeit endgültig passé. Was seinen Gegnern Mut zur Erhebung gab und sein absehbares Ende besiegelte. Nichtsdestotrotz endete das Jahr 1812 mit beiderseitiger Erschöpfung, was von herkömmlichen schulischen Geschichtsbildern nicht unbedingt so zur Darstellung gebracht wird. Dass dieser Krieg keinen Sieger kannte, ist übrigens nicht der einzige Punkt, in dem sich Zamoyski mit gängigen Deutungs- und Erzählmustern anlegt.

Dass dieses famos geschriebene Buch viel der Lobeshymnen einheimst, mag der Leser schon nach Lektüre von nur wenigen Seiten erahnen. Der Grund dafür ist: Zamoyski bleibt bei den Dingen, erzählt von Menschen und verliert sich in keinem Augenblick in trockener Theorie, ohne deswegen jedoch der Tugend intellektueller Distanz zu entsagen. In dieser Hinsicht erweist er sich als ein Meister der richtigen Dosierung. Zugleich räumt Zamoyski, wie zuvor schon angedeutet, mit Mythen auf, was konsequenter Weise so manche Befindlichkeit verletzt, denn immer noch - wir feiern dieses Jahr das Zweihundertjahresjubiläum - rührt dieser totale Krieg ans Gemüt der Völker. Dabei handelte es sich um keinen Volkskrieg, wie Zamoyski darzulegen nicht müde wird, sondern - seitens des Zarenreichs - um den Überlebenskampf eines in der Tat tyrannischen Herrschaftssystems, das mehr als 90 Prozent seiner Bevölkerung in rechtloser und - es lässt sich angesichts der Fakten nicht verharmlosen - brutaler Leibeigenschaft hielt. Folglich fürchtete der despotische Landadel die Möglichkeit eines Aufstands der Geknechteten mehr, als die Kampfkraft des einfallenden Heeres. Ergo wollte man keinen Volkskrieg führen. Der Mythos vom "Vaterländischen Krieg" ist demnach genauso eine geschichtsideologische Chimäre, wie die napoleonische Rechtfertigung, es sei bei dem Einmarsch in erster Linie um die Befreiung und Emanzipierung des ausgebeuteten russischen Bauern gegangen.

In seiner Erzählung vom großen Krieg im Osten Europas nimmt Zamoyski eine sehr intime Perspektive ein - manche sagen "hautnah", ich sage, er wühlt sich durch Fleisch und Blut - verfasst ein Gedicht des Grauens. Die Tragödie des Krieges ist ihm die Bühne für eine Inszenierung des Schreckens in reinster Gestalt. Krieg ist der blanke Wahnsinn! Nie wird das deutlicher denn in Zamoyskis Schilderungen. Sein Blick schweift nicht über das Geschehen, sondern er nimmt den Leser an der Hand, um ihn mitten ins Geschehen zu geleiten. Wir stehen Napoleon gegenüber, der in seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr steht, des ständigen Kriegsführens müde ist, kränkelt, zusehends an Gestalt gewinnt, und eigentlich viel lieber in Paris bei seiner jungen Frau, Marie-Louise, aus dem Geschlecht der Habsburger bliebe, an die ihn eine schwärmerische Verliebtheit fesselt, deren warmer Körper ihm mehr bedeutet als jeder Kriegsruhm. Wir sehen Zar Alexander, dessen Charme einnehmend ist, eine scheinbare Lichtgestalt unter den Monarchen Europas, der sich aber auch zusehends als von Gott gesandter Erlöser dieser Erde wähnt, nichtsdestotrotz nur wenig Empfindung für die Nöte seiner Untertanen hat, ja diese nicht einmal beiläufig wahrnimmt. Wir erleben einen russischen Adel, der sich dermaßen in französischer Lebensart gefällt, dass er kaum mehr in der Lage ist, sich mit gewöhnlich Sterblichen aus dem Volk in deren russischer Sprache zu verständigen, was dann auch für russische Offiziere im Umgang mit ihren Mannschaften zum allfälligen Problem wird. In Anbetracht der großen Gefahr gelobt diese Aristokratie euphorisch Aufopferung, um dann doch zu allererst die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Ein zum Volkskrieg geneigter Patriotismus sieht anders aus, stellt Zamoyski unmissverständlich klar.

Noch mehr als der Blick ins Gehaben der Noblen und Edlen widmet Zamoyski, der selbst von polnischem Adel abstammt, seine Aufmerksamkeit dem einfachen Volk - dem zum Kriegsdienst genötigten Rekruten und dem einfachen Bauersmann, der zuerst von der eigenen, am Rückzug befindlichen Armee ausgeplündert wird, um sodann seinen letzten Bissen Brot an den nachrückenden Feind dieser Armee zu verlieren. Und der unter diesen Umständen zur Bestie vertiert.
Der russische Soldat war ein armer Teufel, lässt sich in völliger Unbefangenheit feststellen. Gegen seinen Willen wurde er in jungen Jahren für eine Dienstzeit von 25 Jahren eingezogen. Er war mehr oder weniger rechtlos, kannte keinen Urlaubsanspruch, war den - nicht selten groben - Launen seiner vielfach korrupten Vorgesetzten schutzlos ausgeliefert, sein Leben galt am Schlachtfeld nichts, und wenn er zu den wenigen (keine zehn Prozent!) zählte, die diese Dienstzeit überlebten, stand er inmitten einer von Unfreiheit gekennzeichneten zivilen Gesellschaft als bloß in Gewalttechniken versierter Entlassener wiederum vor dem Nichts. Sein Leben war elendig und wertlos, also hing er auch nicht daran. Der Todesmut des russischen Soldaten war dann auch sprichwörtlich und sollte den Gegner aus Westeuropa in ungläubiges Staunen versetzen.

Der kriegerische Gegner des russischen Soldaten war ein Mann mit Bürgerrechten - in gewisser Weise das Produkt der von Napoleon gezähmten "Französischen Revolution" und wähnte sich unter der Führung des großen Imperators als siegesgewisser Agent der Geschichte. Man hatte ihn zum Kriegsdienst eingezogen, er hoffte auf Beute und Karriere und - sollte er überleben - auf eine gutbürgerliche Zukunft innerhalb einer aufgeklärten Gesellschaft. Dass Napoleon auch diesmal siegen werde, daran zweifelte er nicht. Und der Ruhm des Heroen werde auch seinen Soldaten zukommen. Der Krieg bot sich als Chance dar. Moskau schien nicht mehr als eine Zwischenetappe am Weg nach Indien.
In den meisten Fällen war der einfache Soldat im Dienste Napoleons französischer, deutscher, polnischer oder italienischer Abstammung. Aber auch Kontingente aus Holland, Spanien, Portugal, Kroatien, Dänemark, der Schweiz und Österreich - aus ganz Europa, kann man sagen - marschierten gegen Osten - in ihr Verderben, weil was ein Krieg in den öden Landstrichen des weiten Ostens bedeutete, erkannte man zu spät.

Diese aus allen Nationen Europas zusammengewürfelte Armee erwies sich selbst noch unter widrigsten Bedingungen als militärisch beinahe unbezwingbar und nötigt jedem Militärhistoriker tiefsten Respekt ab. Es waren letztlich auch nicht die Bajonette einer unter dem großmäuligen Kutusow lausig geführten russischen Armee, die den Soldaten der Grande Armée den Garaus machten, sondern katastrophale Versorgungsmängel und ein russischer Winter, der mit -37 Grad Celsius für Tausende den Erfrierungstod brachte und - der abgefrorenen Gliedmaßen wegen - die Überlebenden verstümmelte. Letztlich war nicht einmal ein Viertel der "Gefallenen" am Schlachtfeld geblieben, sondern die große Mehrheit der "Gefallenen" war verhungert, erfroren, an Krankheiten und Verwundungen verreckt, in einem der wiederkehrenden panischen Getümmel zertreten oder von Bauern erschlagen worden, die ebenfalls um ihr bloßes Überleben kämpften.

Weiten Raum nehmen in Adam Zamoyskis Text die authentischen Schilderungen der kaum vorstellbaren Entbehrungen, unter denen Napoleons eigentlich ja brillante Armee zu leiden hatte, ein. Verhungernde, erfrierende, zerlumpte Menschen, die in blanker Not selbst vor Kannibalismus nicht mehr zurückschreckten, in tiefster Verzweiflung die Waffen gegen sich selbst richteten, welche lebende Pferde ausweideten, da die toten sofort steif froren, die gegenüber dem Leid anderer Kreaturen völlig abstumpften, aber andernfalls doch auch wieder menschliche Größe bewiesen, und bei allem Elend sich bei Nahen des Feindes immer noch zur Schlachtordnung aufstellten, um, trotz Unterlegenheit in allen Belangen, dessen Ansturm standzuhalten. So sehr diese Soldaten Napoleons also zu nicht bloß bemitleidenswerten, sondern ob ihrer Erscheinung abstoßenden Elendsgestalten verkamen, dreckig, stinkend, zerlumpt und - zum Schutz gegen die Eiseskälte - bizarr gekleidet, von Frostbeulen und eitrigen Wunden übersät, Ausgeburten eines jede Fantasie übersteigenden Grauens, so sehr nötigen sie doch jedem Betrachter Achtung ab, denn sie haben - in ihrer Not - Übermenschliches vollbracht. Zamoyski errichtet ihnen mit seiner Schrift ein Denkmal. Keine Glorifizierung zwar, und schon gar keine Rechtfertigung ihrer Schandtaten, die ebenso wenig verschwiegen werden, doch eine Verbeugung vor jener roh kreatürlichen Willenskraft, die in schier aussichtloser Lage das Überleben sichert.

Das Ringen und Verrecken von 1812 wurde in der Sichtweise der Nachwelt je nachdem heroisch überhöht oder als nichtig und barbarisch denunziert, sowohl in Russland als auch in Frankreich wechselten die Perspektiven und Deutungsweisen. Nach Napoleons Sturz und der Wiedereinsetzung der Bourbonen-Dynastie wollte man in Frankreich in diesem Kriegszug zuerst rein gar nichts Würdiges erkennen, später dann, bei wechselnden Machtverhältnissen, hingegen keine militärische Niederlage eingestehen, denn man sei letztlich ja vom russischen Winter und nicht von den russischen Waffen geschlagen worden.
In Russland bemühte man sich nach Kriegsende, das Volk schleunigst wieder zu entwaffnen und in alter Manier zu knechten. Den Sieg legte man als Sieg des alten Systems aus. Dieses hätte sich im Widerstreit mit einem übermächtigen Feind bewährt, sei also nachweislich von Gott gewollt und bedürfe keiner Reform. Trotzdem sprach man von einem "Vaterländischen Krieg", ungeachtet der Tatsache, dass, wer sich den Invasoren entgegensetzte, dies tat, um seine Hühner und Gänse zu verteidigen, nicht das Vaterland ([sic] Pokrowskij). Aus Lenins klassenkämpferischer Perspektive war es ein Krieg zwischen französischer Bourgeoisie und reaktionärer russischer Hocharistokratie gewesen. Und wer auch immer dabei gewann, das russische Volk konnte dabei nur verlieren. Unter Putin ist es wieder der heroische Charakter des russischen Menschenschlags, der, weil zum Sieger geboren, den Sieg davon getragen hat.

Am meisten zur Popularisierung dieses Krieges hat wohl der russische Schriftsteller Leo Tolstoi beigetragen. Das klingt auch bei Zamoyski durch. Wer, egal aus welchem Blickwinkel auch immer, über den Krieg von 1812 schreibt, wird an Tolstoi - und hinkünftig auch an Zamoyski - nicht vorbeikommen, welcher nicht nur Literat war, sondern auch von Kriegsführung aus eigener Profession und Erfahrung etwas verstand. Mit seinem Roman "Krieg und Frieden" kleidet Tolstoi eine eigentümliche kriegsphilosophische Auslegung des historischen Geschehens in eine packende Handlung, welcher er so denn eine in ihrer Intention konservative Tugendlehre zugrunde legt. Tolstoi wendet sich in slawophiler Manier gegen "fremdartige" Einflüsse und lebensartige Infizierungstendenzen, die sich vor allem in der französisierenden Hocharistokratie Russlands verbreitert hätten. Wie dem auch immer ist, Zamoyski weiß die Vielschichtigkeit von Tolstois Werk jedenfalls zu schätzen und gesteht ihm unverwandt eine fundierte Kenntnis von Geschichte zu, wenn er auch dessen Charakterisierung des russischen Heerführers Generalfeldmarschall Fürst Kutusow als quasi archetypische Verkörperung des Russentums ganz gewiss nicht teilen mag. In der Darstellung Zamoyskis kommt Kutusow schlecht weg, entpuppt sich als arger Fehlgriff, ist ihm gar Zielscheibe für so manche unterschwellige Gehässigkeit, was wohl insbesondere unter russischen Lesern dieses Buches nicht immer gut ankommen wird.
Was nun schließlich den titanischen Aufeinanderprall der feindlichen Armeen in der Schlacht von Borodino betrifft, so lässt es sich kaum entscheiden, wo sich mehr Dramatik findet - bei Tolstoi oder bei Zamoyski -; einzig, dass bei Tolstoi die russischen Front standhafter hält.

Es ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen, angesichts von Adam Zamoyskis Buch "1812" von einem militärhistorischen Meisterwerk zu sprechen. Geschichte soll vom Schicksal der Menschen erzählen, also literarische Intensität vermitteln, und sich nicht als bloße Wissenschaft oder Faktendozentur genügen. Zamoyski wird dieser Anforderung vollauf gerecht, denn er hat fesselnde Literatur geschaffen, die aufregt, betroffen macht und schlicht gefällt. Nicht jede seiner Thesen und Sichtweisen mag in der Sache unwidersprochen bleiben, Wissenschaft lebt sowieso vom synthetisierenden Widerspruch, und des Autors Lust an der Polemik provoziert wohl auch, doch sei mir an dieser Stelle der Wunsch gestattet, die Gegenthese wolle mit vergleichbarem Charme einherschreiten, wie Zamoyski es vorexerziert hat.

(Harald Schulz; 08/2012)


Adam Zamoyski: "1812. Napoleons Feldzug in Russland"
(Originaltitel "1812. Napoleon's Fatal March on Moscow")
Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting.
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2012. 720  Seiten, mit 60 Abbildungen und 24 Karten.
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Digitalbuchausgabe:
C.H. Beck, 2012.
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Adam Zamoyski entstammt einem alten polnischen Adelsgeschlecht, das mit der Familie Chopins bekannt war. Geboren 1949 in New York, wuchs Zamoyski in England auf. Der Historiker lebt in London und Polen. Er schrieb zahlreiche Sachbücher zu historischen Themen und Biografien über polnische Persönlichkeiten.

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Eckart Kleßmann: "Die Verlorenen. Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug"
In diesem Buch geht es nicht um die militärische Geschichte des Krieges von 1812, sondern um das Kriegserleben des Einzelnen, dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Memoiren, wobei die Briefe in die Heimat wohl die zuverlässigsten und berührendsten Quellen sind: "Und nun, meine teuren geliebten Eltern! hängt mein ganzes Schicksal eigentlich nur von Ihren Ansichten ab. Können Sie sich noch auf die Zurückkunft eines Sohnes freuen, der Ihnen zwar ein hölzernes Bein, aber ein warmes, von Liebe für seine Eltern, von Liebe zum Guten überwallendes Herz mitbringt; können Sie sich daran gewöhnen, mit einem Menschen zu leben, der zwar ein Krüppel ist, aber im Dienste seines Königs und als braver Kerl zum Krüppel geschossen wurde ..." Neben Friedrich von Harpprecht, der seine Heimat dann doch nicht wiedersehen sollte, kommen 81 weitere deutsche, schweizerische, französische und russische Augenzeugen zu Wort, darunter hohe Militärs wie Armand de Caulaincourt, bekannte Persönlichkeiten wie Stendhal, aber vor allem die einfachen Soldaten. Ihr Leidensweg zeigt deutlich wie selten zuvor den Irrsinn eines auch nach 200 Jahren nicht vergessenen Krieges, der wegen wirtschaftlicher Interessen geführt wurde und außer unzähligen Toten nichts brachte.
Neben den Augenzeugenberichten veranschaulichen zahlreiche Illustrationen, die alle von Teilnehmern des Feldzugs stammen, das Kriegserleben des Einzelnen.
Mit einem Verzeichnis der Zeitzeugen und einer farbigen Landkarte. (Aufbau)
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