Alberto Angela: "Vom Gladiator zur Hure"
Die Reise einer Münze durch das Römische Reich
Ein
Geldstück wandert durch die Provinzen, von Mensch zu Mensch
Man stelle sich vor, eine Münze geht einige Zeit von Hand zu
Hand; mit ihr wird in Paris, Cádiz, Trier, Rom, Athen und
London bezahlt. London? Es kann also keine Euro-Münze sein.
Oder ist das eine Zukunftsvision globalisierungsbegeisterter
Europapolitiker?
Nein, es geht um die Vergangenheit. Schon vor fast 1900 Jahren, zur
Zeit des römischen Kaisers Trajan, als im Jahr 117 das
Imperium Romanum seine größte Ausdehnung von der
schottischen Grenze bis an den Persischen Golf hatte, umfasste die
damalige wirtschaftliche und politische Einheit den
größten Teil Europas, alle Mittelmeerländer
und große Gebiete des Orients.
Der römische Journalist und Fernsehmoderator Alberto Angela,
der bereits anno 2009 den Tagesablauf im Leben der
Hauptstädter in "Ein
Tag
im alten Rom" veröffentlichte, stellt seine
höchst lesenswerte Alltagsgeschichte vor.
Hinter dem Kolosseum, in der römischen Münzanstalt,
wird aus einem Bronzebarren ein neuer Sesterz geprägt, eine
mittlere Münze, deren heutiger Wert etwa zwei Euro entspricht.
Auf der Vorderseite prangt das Bild des Kaisers. Schon bald danach
bringt eine Reitereskorte einige Säcke der frisch
geprägten Geldstücke nach England, wo sie der
Statthalter zur Bezahlung der Solde seiner Legionen entgegennimmt.
Nicht weit von dort tanzen keltische Druiden ekstatisch um ein Feuer;
die Münze geht von Hand zu Hand und gelangt im Geldbeutel bis
in die nördlichste Ecke des Reichs, nach Vindolana am
Hadrianswall, der noch heute sichtbar die römischen Siedlungen
vor einfallenden Barbaren schützen sollte. Von dort reist die
Münze mit ihren kurzzeitigen Besitzern über
römische Straßen mit einem Weinhändler nach
Lutetia, ins heutige
Paris,
von dort in die Weinberge an der Mosel und weiter in den Mittelmeerraum.
Angela nimmt sich viel Zeit, das Leben in dieser römischen
Provinz ausführlich zu schildern. An jeder Station, wo die
Münze in neue Hände gelangt, wird ein neuer Aspekt
des antiken Alltags beschrieben: Goldgewinnung in Nordspanien, Mode in
Mailand, Luxusleben im Golf von Neapel, Fernhandel vom Roten Meer bis
nach Indien, Kulturtourismus in Athen, Piraterie im Mittelmeer. Den
Menschen, die das Geldstück in ihren Beutel stecken, gibt der
Autor Namen, aber keine Fantasiebezeichnungen, sondern die Namen von
Personen, deren Leben aus Inschriften, Grabsteinen, Briefen bezeugt
ist. Besonders die Szenen in Nordengland geraten besonders
eindringlich, fand man doch in einer Abfallgrube hunderte
Schriftstücke und andere Dinge des Alltags, die die
sauerstoffarme Torferde über viele Jahrhunderte gut bewahrte.
Aus ihnen kennt man den Namen des aus Batavien (den heutigen
Niederlanden) stammenden Feldherrn, seiner Frau und Kinder. Wir lesen
von einer Geburtstagseinladung, die die Kommandantengattin Lepidina von
ihrer Freundin Sulpicia erhielt, und die Abschreibübungen
ihres Sohnes, einige Verse aus Vergils Aeneis, die ihm der gelehrte
Haussklave Primigenius diktierte. Auch am anderen Ende des Reiches, in
Ägypten, wird der Leser wieder auf Lateinhausübungen
stoßen, auch dort musste ein Knabe Verse von Vergil
abschreiben. Der Name der Musikerin Aelia Sabina aus Acquincum (Budapest),
die
zu ihrem Verlobten nach Nordafrika fuhr, dabei Schiffbruch erlitt
und der in Alberto Angelas Buch nach ihrer Rettung ein Sesterz
gespendet wird, ist überliefert.
Der Autor tat also nichts Fiktives, außer in höchst
eindrucksvoller Weise bis heute bekannte Schicksale und historische
Fakten neu zu kombinieren. In seiner plastischen Erzählweise
zeigt er detaillierte Kenntnis der römischen Geschichte; wo er
die archäologischen Funde, mit denen er seine Geschichte(n)
belegt, nicht deuten kann, scheut er sich nicht, Spekulationen und
unsichere Forschungsergebnisse zuzugeben und so Leser in die Abenteuer
der Wiederentdeckung antiken Lebens anhand alter Texte und manchmal
überraschend gut erhaltener Fundstücke einzubeziehen.
Die mittlerweile sehr gute elektronische Dokumentation
archäologischer Funde aus der Antike macht es auch
möglich, im weltweiten Netz weiter zu recherchieren, sich
Pläne der beschrieben Städte oder die Grabsteine der
erwähnten Käufer und Verkäufer anzusehen.
Auch der oben erwähnte Brief von Sulpica an Lepidina ist so
leicht einsehbar - vermutlich das älteste mit Sicherheit von
einer Frau verfasste Schriftstück, das bis heute erhalten ist.
Dieses individuelle Weiterforschen, die Ausweitung der eigenen
Lektüre, kann die wenigen Mängel dieses sonst so
gelungenen Buches ausgleichen: die vierzehn Zeichnungen aus dem
römischen Alltag haben nur wenig Informationswert und erinnern
manchmal eher an die Skizzen von Kostümbildnerlehrlingen. Der
zweite Mangel ist das fast vollständige Fehlen der
Quellenangaben; neben der Primärliteratur aus der Antike, vor
allem vom Satiriker Juvenal und dem Historiker Cassius Dio, aber auch
von Plinius d. Ä. und Tacitus, gibt es nur wenige Angaben zur
Herkunft von Alberto Angelas reichem Wissen über das Leben
seiner Ahnen.
Und gab es nun diesen, "unseren" Sesterz wirklich? Der Autor spannt den
Bogen bis heute und lässt ihn am Ende des Buches einem
Verstorbenen als Obolus für die Überfahrt ins
Totenreich in den Mund legen. Dort wird er nach 1893 Jahren von einer
jungen Archäologin gefunden, in die Hand genommen und
bestaunt: Wer mag das Geldstück in seinen Händen
gehalten haben?
Alberto Angela ist wiederum ein lesenswertes Buch zur
römischen Geschichte gelungen, das profundes Wissen mit
Spannung und mitreißender Erzählweise kombiniert.
(Wolfgang Moser; 06/2012)
Alberto
Angela: "Vom Gladiator zur Hure.
Die Reise einer Münze durch das Römische Reich"
Originaltitel "Impero")
Aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl.
Riemann, 2012. 608 Seiten, 14 s/w Abbildungen.
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Das Bild, das die römische Elite von ihrer Gesellschaft
zeichnete und das die Geschichte bis heute fortschreibt, hatte mit
der
Wirklichkeit der meisten Einwohner des Römischen Reiches sehr
wenig zu tun. Denn die Quellen für dieses Geschichtsbild
entstammen sämtlich der Oberschicht, die nur 0,5 Prozent der
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