Henning Mankell: "Erinnerung an einen schmutzigen Engel"
"Im
Grunde beruht alles, was ich schreibe, auf einer Wahrheit. Es kann
eine
große oder eine kleine Wahrheit sein, sie kann glasklar oder
äußerst fragmentarisch sein. Aber trotzdem ist da
immer etwas, was auf wirklichen Ereignissen beruht, und in meinem
Buch
führt es dann zur Fiktion."
(Henning Mankell, aus dem Nachwort zu "Erinnerung an einen schmutzigen
Engel")
Henning Mankell hat es vermocht, aus einer Handvoll Informationen eine
imposante Geschichte zu kreieren.
Tor Sällström, ein Freund aus Afrika,
erwähnte im Laufe eines Gesprächs mit Mankell
Dokumente aus dem alten, kolonialen Archiv in Maputo, aus denen
hervorginge, dass Ende des 19. Jahrhunderts eine Schwedin Besitzerin
eines der größten Bordelle der Stadt, die seinerzeit
Lourenço Marques hieß, war. Bemerkenswert ist,
dass sie aus dem Nichts zu kommen scheint und sich ihre Spur nach nur
wenigen Jahren wieder verliert.
Die literarische Ausarbeitung einer ungewöhnlichen
Lebensgeschichte ist Henning Mankell meisterhaft gelungen. Er
lässt die Hauptprotagonistin Hanna in Schweden aufwachsen, wo
sie schließlich ihre Familie verlassen muss, um in einer
anderen Stadt ihr Auskommen zu finden. Nach nur wenigen Monaten, die
von schwerer Arbeit gekennzeichnet sind, wird sie mit Hilfe ihres
Vorgesetzten auf ein Schiff transferiert, das nach Australien unterwegs
ist. Sie verdingt sich als Schiffsköchin, lernt einen Mann
kennen und vielleicht sogar lieben, von dem sie bald ein Kind erwartet
und der bei einem Landgang mit einem Krankheitserreger infiziert wird,
der ihn schnell das Leben kostet. Da sie ihn vorab geheiratet hat, ist
sie im Alter von nicht einmal 19 Jahren Witwe. Sie
beschließt, nicht bis nach Australien weiterzufahren, und
büxt in einem guten Moment aus, als das Schiff im Hafen von
Lourenço Marques, dem heutigen Maputo, Halt macht.
So weit, so gut. Die Ereignisse nehmen sehr viel Fahrt auf, wenn die
Fahrt mit dem Schiff zu Ende ist. Hanna landet, zunächst ohne
es zu wissen, in einem Bordell,
ehelicht kurz entschlossen wenig später den Besitzer, Herrn
Vaz. Das Drama findet seinen Fortgang darin, dass auch ihr zweiter Mann
eines Nachts zu Tode kommt, und sie also zum zweiten Mal Witwe ist. Er
hat ihr das Bordell vermacht, und sie ist von nun an zuständig
für das Wohlergehen von 13 ihr anvertrauten Prostituierten. So
nebenbei ist sie schwerreich, da Herr Vaz ihr auch noch andere
Besitzungen hinterlassen hat.
Oberflächlich betrachtet klingt da eine märchenhafte
Konstante durch, doch mit einem Märchen hat die Geschichte
überhaupt nichts zu tun. Die gesellschaftliche Wandlung vom Aschenputtel
zur Königin ist eine äußere Komponente, die
mit den inneren Zerwürfnissen von Hanna im extremen Kontrast
steht. Der Reichtum lässt sie immer wieder verzweifeln, da sie
ihn als etwas ansieht, für das sie nichts kann. Ihr
materielles Wohlergehen manifestiert sich darin, dass sie sich wie eine
Außerirdische fühlt, mit der insbesondere die
gebürtigen Schwarzafrikaner wenig bis nichts zu reden bereit
sind.
Hinter der Fassade der Unterwürfigkeit steckt eine tiefe
Ablehnung der Schwarzen gegen die alles unterminierenden Kolonisatoren.
Lourenço Marques war eine portugiesische Kolonie, und es
herrschte das Diktat der sich selbst als "höherwertig"
betrachtenden weißen Rasse. Die Schwarzen galten als
minderwertig und waren nur zu Hilfsdiensten zu gebrauchen. Hanna hat es
also mit einem Wechselbad der Gefühle zu tun, weil sie sich
einerseits in dieser "anderen Welt" zu orientieren sucht, andererseits
nicht so recht weiß, wie sie sich überhaupt
einordnen kann. Doch nach zahlreichen, zum Teil bitteren Erfahrungen
schlägt sie sich ganz auf die Seite der Schwarzen und
möchte schließlich auch alles tun, um eine im Kerker
steckende schwarze Frau zu retten und sogar freizukaufen.
Die zweite Hauptfigur des Romans ist keiner ihrer beiden bald das
Zeitliche segnenden Ehemänner und auch keiner der mannigfaltig
auftretenden, oft grobgeschnitzten und die Schwarzen verachtenden
reichen Weißen, auch keine der durchaus selbstbewussten
Prostituierten, sondern ein Affe,
der auf den Namen Carlos hört. Mit ihm fühlt sie sich
am stärksten verbunden, weil er zwischen den Welten steht und
sie so annimmt, wie sie ist. Hanna findet sich im Grunde nie zurecht in
der ihr fremden Welt, und so ist es verständlich, dass sie
sich früher oder später wieder in vertrautere Gefilde
aufmachen will.
Sie weiß nicht, was sie erwartet, wie ihr Leben verlaufen
wird, wenn sie als reiche Frau nach
Schweden
zurückkehrt. Es bleibt letztlich offen, weil sich ihre Spur
verliert. Und hier schließt sich der Kreis.
Henning Mankell, der ja stets eine Hälfte des Jahres in Maputo
lebt, hat einen Afrika-Roman geschrieben, der sehr dicht angelegt ist.
Das ist bei ihm keineswegs selbstverständlich, weil nicht nur
in seinen "Wallander"-Krimis Weitschweifigkeiten immer wieder
vorkommen. Gerade durch die Dichte von "Erinnerung an einen schmutzigen
Engel" gewinnt der Roman an Qualität und literarischer
Ausformung.
Jedes Kapitel hat kaum mehr als vier, fünf Seiten, und die
Geschehnisse reihen sich nicht aneinander, sondern stellen
Mosaiksteinchen dar, die am Ende ein meisterhaftes Bild ergeben.
Zweifellos ein kleines Meisterwerk, zumal Mankell wichtige Fragen
stellt, die jeder Leser für sich beantworten kann.
Denn eines ist klar: Hier wird keine Schwarz-Weiß-Malerei
fabriziert, sondern eine konstruktive, tieferschichtige Sichtweise
offenbar. Wer Menschen kategorisiert, erfindet ein pathologisches
System, das auf ihn selbst zurückfällt. Rassismus
kennzeichnet und offenbart Ängste und Defizite der ihm
aufsitzenden Persönlichkeiten, die nur durch
Aufklärung aufgelöst werden können.
In diesem Sinne kann dieses Werk von Henning Mankell durchaus als im
Geiste der Aufklärung geschrieben verstanden werden.
(Jürgen Heimlich; 07/2012)
Henning
Mankell: "Erinnerung an einen schmutzigen Engel"
Aus
dem Schwedischen von Verena Reichel.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2012. 352 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
Zsolnay, 2012.
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Hörbuchausgabe:
Gekürzte Lesung. Gelesen von Axel Milberg.
der Hörverlag, 2012. 6 Audio-CDs, Laufzeit ca. 420 Minuten.
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"Südafrika
fürs Handgepäck"
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Montagus. Dies und vieles mehr über Südafrika ...
(Unionsverlag)
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Manfred
Loimeier:
"Wortschätze. Interviews mit afrikanischen
Schriftstellerinnen und Schriftstellern"
Zehn Jahre nach seinem Interviewband "Wortwechsel" und den darin
versammelten Gesprächen mit 40 Autorinnen und Autoren aus
Afrika legt Manfred Loimeier mit "Wortschätze" eine weitere
Interviewsammlung vor. Prominente Autoren wie Chinua Achebe, Breyten
Breytenbach oder André Brink kommen darin ebenso zu Wort wie
zeitgenössische Autoren wie
Fatou
Diome oder Alain Mabanckou oder preisgekrönte
Autoren wie Diane Awerbuck und Helon Habila. Einen Schwerpunkt machen
dabei auch die Stimmen afrikanischer Schriftsteller aus, die sich
innerhalb Deutschlands zu Wort gemeldet haben: Jean-Félix
Belinga Belinga, Luc Degla, EL Loko, Daniel Mepin, Wilfried
N'Sondé und Ruth Weiss sprechen von ihrer Begegnung mit der
deutschen Kultur.
Hinzu kommt, dass mit dieser Zusammenstellung auch ein
Rückblick auf zehn Jahre Wahrnehmung afrikanischer Literaturen
in Deutschland möglich wird, so dass damit nicht nur das
vermeintlich Fremde nahegebracht, sondern auch das vertraut geglaubte
Eigene hinterfragt wird. Dabei geben die Schriftsteller und
Schriftstellerinnen Auskunft etwa über den Wandel in
Südafrika, den Blick auf Europa, sie sprechen von der
Geschichte ihrer Länder und von beliebten literarischen
Formen: von Poesie- Aufführungen wie vom Krimi-Genre, vom
Liebesroman wie vom politischen Reißer. (Horlemann)
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Bartholomäus
Grill: "Ach, Afrika. Berichte aus dem Inneren
eines Kontinents"
Eine leidenschaftliche Liebeserklärung an die afrikanische
Welt.
Afrika
ist ein Kontinent voller Widersprüche, geprägt durch
die reiche Vorstellungswelt seiner Menschen, ihre sozialen Regeln und
Rituale, ihre Träume und Tabus, ihre Machtstrukturen und
Glaubenssysteme. Diese Welt erscheint oft roh und gewalttätig,
dann wieder zeitlos heiter und gelassen. Bartholomäus Grill
hat sie uns mit diesem Buch erschlossen. Ein Standardwerk, das der
Autor aktualisiert und um ein neues Kapitel über die
atemberaubenden Entwicklungen der letzten Jahre erweitert hat.
(Pantheon)
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Andreas
Altmann: "Lesereise Afrika. Im Herz das Feuer. Quer durch den
Kontinent"
In Kairo beginnt Andreas Altmann seine Reise in den Süden
Afrikas. Mit viel Sinn für die absurde Komik des Schrecklichen
führt uns der renommierte Reporter durch diesen
geheimnisvollen Kontinent; dabei hat Altmann keinerlei
Berührungsängste: Er geht nah heran und
verführt die Menschen zum Reden. So entsteht ein Kaleidoskop
beeindruckender Momentaufnahmen: der Besuch beim Friseur, der mit einer
Ziege auf seinem Schoß in seinem Laden sitzt; die
fünfköpfige Familie, die in die Totenstadt im Osten
von Kairo
gezogen ist, weil unter den Lebenden kein Platz mehr war. Auf
Sandpisten und Dschungelwegen nähert sich Altmann langsam
seinem Ziel - durch den Sudan, Zentralafrika, Sambia, Simbabwe,
Botswana nach Südafrika. Immer wieder wird das Vorankommen zur
fast unlösbaren Aufgabe: Die scheinbar verlorene Art des
Reisens bringt ihn an seine körperlichen Grenzen, er wohnt in
Hotels "mit einem halben Stern" oder verbringt die nächtliche
Überfahrt auf dem Lake Nasser auf einem
Küchentisch dösend. Altmann versteht es, den
Abgründen dieses Landes nicht auszuweichen und dennoch der
Poesie seiner Menschen gerecht zu werden, denn: "Ihr Leben
ist schwer und ihre Worte sind leicht. Die träumen."
(Picus)
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Martin
Horváth:
"Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu
retten"
Ali hat seine Augen und Ohren überall. Er ist, so behauptet er
jedenfalls, fünfzehn Jahre alt und kommt irgendwo aus dem
Westen Afrikas, spricht nach eigenen Angaben vierzig Sprachen und
Deutsch
am allerbesten und weiß genauestens Bescheid über
das Leben und Sterben in den ärmeren Ländern der
Welt. Ali kann alles, kennt alles und fristet sein Dasein nur aus
einem
Grund in einem Wiener Asylwerberheim: Er, der Anwalt der
Unterdrückten, der Beschützer aller
Gedemütigten, hat es sich zur ehrenhaften Aufgabe gemacht,
seine Mitinsassen von ihren Ängsten und Albträumen zu
befreien. Seine Wunderwaffe: das Erzählen. Ali ist ein
Erzählverführer, der mit beißendem Spott
und subversivem Humor bewaffnet zur täglichen Weltrettung
antritt.
Ein scharfsichtiger Roman, der wortmächtig und voller
unerschöpflicher Fabulierlust unserer Welt den Spiegel
vorhält.
Martin Horváth wurde 1967 in Wien geboren. (DVA)
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Florian Beckerhoff: "Karl Konrads
heimliches Afrika"
Das ganze Dorf tratscht über Karl Konrad. Seit sich sein Vater
und sein Bruder nach Afrika davongemacht haben, kümmert sich
Karl um den Haushalt und seine Mutter. Bis der Bruder eine
begeisterte
Postkarte schickt. Da gerät Karl ins Grübeln: Ist
Fortgehen denn wirklich der einzige Weg? Sämtliche junge
Frauen haben das Dorf verlassen - bis auf Elke. Die
Fleischfachverkäuferin arbeitet im einzigen Geschäft
weit und breit. Auch wenn sie mit ihren anderthalb Metern gerade
über die Auslage schaut, ist sie das Ziel allen
männlichen Begehrens. Nur Karl hat andere Pläne.
Seine Sehnsucht ist größer, und eines Tages
erfüllt er sie sich. Gleich hinter dem Wald gründet
er sein eigenes Land, mit Zebras, Straußen und dem Flusspferd
Esmeralda. Kein Wunder, dass auch Elke das nicht lange kalt
lässt ... (List)
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