Doris Lessing: "Der Ameisenhügel"

Erzählungen, Band 1


Etwa einhundert mehr oder weniger unbekannt gebliebene Kurzgeschichten hat Doris Lessing neben ihren im Allgemeinen bekannter gewordenen Romanen verfasst. Die Auswahl in dem nun vorliegenden dreizehnten Band der bei Hoffmann und Campe erscheinenden Werkauswahl folgt einer chronologischen Anordnung. Zwischen 1951 und 1964 datieren die Erstveröffentlichungen der in diesem Band versammelten Erzählungen. Danach erschienene Kurzgeschichten sind dann einem späteren Band vorbehalten. Die in Band 1 abgedruckten Erzählungen "Verräter" und "Sonnenaufgang im veld" erscheinen hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung. Ohnehin wurde die in ihrem Heimatland bereits in jungen Jahren populäre Doris Lessing im deutschen Sprachraum erst recht spät gewürdigt. Mitte der siebziger Jahre waren in der BRD erst drei ins Deutsche übertragene Bände der Autorin erhältlich!

Doris Lessing, die die ersten 25 Jahre ihres Lebens in Afrika, in der ehemaligen britischen Kolonie Südrhodesien, verbracht hat, verarbeitet in ihren Erzählungen Erfahrungen, die sie in jenen Jahren dort durchlebt hat. Und im Laufe solch ereignisreicher Jahre in Afrika hat sich natürlich ein Erzählkapital herangebildet, das bei einem schriftstellerisch begabten Menschen nach Ausdruck verlangt. So nimmt es kein Wunder, dass der Schwerpunkt dieses Bandes auf den "afrikanischen" Erzählungen liegt. Facettenreich wie die Natur und das Leben im afrikanischen Busch sind auch Doris Lessings Geschichten. Ihre Erzählperspektive ist zumeist die eines heranwachsenden Mädchens, etwa im Pubertätsalter, und eigene Beobachtungen und Erlebnisse scheinen die Grundlage zu bilden, auf der sie ihre Erzählungen aufbaut. Ein zentrales Motiv ihrer Beobachtungen ist natürlich die großartige Natur in der ehemaligen Kolonie Südrhodesien, die Landschaft sowie die Tier- und Pflanzenwelt. Vor diesem eindrucksvollen Hintergrund lässt sie die Menschen auftreten, Eingeborene wie "Kolonialherren". In mehreren Geschichten beleuchtet Doris Lessing das problematische Verhältnis zwischen der schwarzen und der weißen Rasse. Auch die Dialektik von Tod und Leben durchwirkt wie ein Leitmotiv viele der Geschichten. Tod und Leben, die beide im afrikanischen Busch allgegenwärtig sind. Einige Sätze dazu aus der Erzählung "Sonnenaufgang im veld": "Als ihm einfiel, dass er das Tier erschießen und von seinen Schmerzen erlösen sollte, hob er die Flinte und ließ sie gleich darauf wieder sinken. Warum etwas unternehmen? So etwas geschieht überall im Busch, es geschieht ständig, das Leben geht weiter, weil lebendige Wesen unter Qualen sterben." Solche Eindrücke und Erlebnisse prägten also die junge Doris Lessing, und daher rührt auch wohl die Überzeugungskraft speziell derjenigen Geschichten, die in Afrika spielen.

Als weniger überzeugend empfand ich die im Feminismus wurzelnden psychologischen Skizzen, die etwa ein Drittel des Buches ausmachen. Dabei handelt es sich um Geschichten, die größtenteils in England spielen und die die Erfahrungswelt von Frauen zum Thema haben sowie das problematische Verhältnis der Geschlechter zueinander. Doch die Ausdifferenzierung der hier dargestellten Charaktere und ihrer Psychologie gelingt der Autorin nicht mit letzter Überzeugungskraft, wenngleich sich auch unter diesen Erzählungen Glanzstücke finden, wie zum Beispiel die im Surrealismus angesiedelte Geschichte "Wie ich endlich mein Herz verlor". Alles in allem betrachtet ist "Der Ameisenhügel" auf jeden Fall eine starke Sammlung von Kurzgeschichten der unterschiedlichsten Themen und Erzählweisen. Barbara Christ, verantwortlich für die Redaktion der Werkauswahl und auch als Übersetzerin daran beteiligt, hat noch ein informatives Nachwort zu diesem Band beigesteuert.

(Werner Fletcher; 04/2012)


Doris Lessing: "Der Ameisenhügel. Erzählungen, Band 1"
Übersetzer: Barbara Christ, Adelheid Dormagen,
Marta Hackel, Lore Krüger, Manfred Ohl, Hans Sartorius.
Hoffmann und Campe, 2012. 448 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Niels Werber: "Ameisengesellschaft. Eine Faszinationsgeschichte"

Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äußerst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet wird, so der Befund, gibt Antworten auf soziologische oder anthropologische Probleme - und stellt jenseits aller Disziplinen die Frage, was der Mensch ist und was die Gesellschaft, in der er lebt. (S. Fischer)
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