Ursula Krechel: "Landgericht"
Sorgfältigen Beobachtern der
deutschsprachigen Literaturszene ist die Schriftstellerin, Essayistin
und Lyrikerin Ursula Krechel schon lange ein Begriff. Schon in ihrem
vorigen Buch "Shanghai
fern von wo", in dem sie sich zum ersten Mal an einem Roman
versucht hat, beschreibt sie das Schicksal jüdischer Emigranten in
Shanghai detailliert, wofür sie viele Jahre recherchiert hatte. Das Buch
hat sie auf eine auch sprachlich und künstlerisch gelungene Weise aus
zahllosen authentischen Berichten zusammengefügt, die vor allem in der
"Wiener Library" in London, aber auch in vielen anderen Archiven
vorhanden sind. Entstanden ist so im Jahr 2008 ein wunderbarer, großer
und ernster Roman, der sich wie ein Geschichtsbuch liest und in der
Reihe der Literatur des jüdischen Exils nach 1938 einen ganz besonderen
Platz einnehmen und auch behalten wird.
Im Rahmen der Recherchearbeiten zu ihrem ersten Roman fiel Ursula
Krechel auch Material in die Hände, das sie nach jahrelanger Arbeit in
den Roman "Landgericht" gefasst hat, der anno 2012 mit dem "Deutschen
Buchpreis" ausgezeichnet worden ist.
Erzählt wird darin die Geschichte des jüdischen Richters Richard
Kornitzer, der dem Holocaust der Nazis rechtzeitig entkommen konnte.
Während seine beiden Kinder Selma und Georg in England bei
Pflegefamilien aufwachsen, lebt Kornitzer von seiner Frau Claire
getrennt zehn Jahre bis 1947 im kubanischen Exil. Dort geht aus einer
Beziehung zu einer Frau eine weitere Tochter hervor.
Als Richard Kornitzer 1947 zurück nach Deutschland kommt, kehrt er zu
seiner immer noch geliebten Ehefrau Claire zurück. Doch als er seine
beiden Kinder aus England zurückholen möchte, weigern sich diese. Sie
wollen in England bleiben, weil sie zu ihren Pflegeeltern nach zehn
Jahren eine viel intensivere Bindung haben als zu ihren leiblichen.
Doch nicht nur im familiären Umfeld muss der Richter, der sich in einer
ihm fremd gewordenen Heimat zurechtfinden will, Enttäuschungen erleben.
In Kohlhaas'scher
Weise kämpft er für eine Wiedergutmachung des Leids, das ihm und seiner
Familie durch die Nazis
geschehen ist. Unerbittlich und immer verbitterter verfolgt er dieses
nur von wenigen Erfolgen gekrönte Engagement bis in das Jahr 1970, in
dem er stirbt.
In vielen Rückblicken in die Vergangenheit lässt Ursula Krechel ihre
Leser an einem authentischen Leben einer jüdischen Familie teilhaben.
Der zeitliche Bogen, den sie spannt, reicht von den dreißiger Jahren bis
zu den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. In einer
nüchternen, stellenweise lakonischen Weise erzählt Ursula Krechel die
Geschichte von Richard Kornitzer, der nicht mehr wollte als
Gerechtigkeit, und der Zeit seines Lebens versucht hat, in
Deutschland, das ihm so übel mitgespielt hatte, seine Heimat zu
sehen.
Der eher kühle, stellenweise essayistische Stil ihres Schreibens, der
zudem noch immer wieder von eingeflochtenen Originaldokumenten
unterbrochen wird, nötigt dem Leser einige Aufmerksamkeit ab.
Ursula Krechel ist es nach ihrem ersten Buch noch einmal hervorragend
gelungen, aus Archivdokumenten einen bewegenden und beeindruckenden
Roman zu machen.
(Winfried Stanzick; 11/2012)
Ursula Krechel:
"Landgericht"
Jung und Jung, 2012. 496 Seiten.
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