Lojze Kovačič: "Die Zugereisten. Eine Chronik"

Drittes Buch


Ein ganz außerordentlicher Erinnerungstext

Im dritten Buch seines groß angelegten Zyklus "Die Zugereisten" beschäftigt sich der bedeutende und bei uns leider noch viel zu wenig bekannte slowenische Autor Lojze Kovačič mit den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dem Einzug der Partisanenarmee und dem Abzug der deutschen Truppen, den darauffolgenden sozialistischen Jahren bis zum Bruch zwischen Stalin und Tito und dem daraus folgenden Weg zur totalitären Entwicklung.

Schon nach wenigen Sätzen wird klar, dass hier ein Autor mit seinen Erinnerungen ringt, mit der literarischen Gestaltung der Realität kämpft und somit einen Text verfasst hat, der zusammen mit den Romanen und Erzählungen Aleksandar Tišmas zu den unvergesslichen und wichtigsten literarischen Aufarbeitungen des zweiten Weltkrieges und der Situation im mittlerweile ehemaligen Jugoslawien gehört.

"Ich ahnte, dass nicht nur jeder den anderen abschütteln würde ... auch melden, auch ausspionieren würden sie sich gegenseitig ... An diesem Tag verriet, um ihren Kopf zu retten, die alte Putzfrau in meinem Institut den Partisanen eine Mulde am Dorfausgang, in der sich sieben Weißgardisten, Kameraden ihres Bruders, versteckt hielten ... mit Handgranaten erledigten sie sie bis zum letzten  Mann ... niemand wollte mehr etwas mit dem zu tun haben, was noch vor wenigen Stunden gewesen war ... das war der erste Sieg des Siegers ..."

Ungeheure Erzählfreude erwartet den Leser dieses Buches, gepaart mit einem Schreibstil, der entfernt an den Stil von Louis-Ferdinand Céline erinnert. Sätze werden meist nicht direkt vollendet, sondern nach drei Punkten in eine andere Richtung getrieben, betrachtet oder einfach verlassen. Ständig wechselnde Szenen, bildhafte Assoziationen und eindrückliche Bilder bestimmen den Lesefluss. So entsteht ein atemloser Duktus, der durch die erzählten Ereignisse zusehends immer größeres Gewicht gewinnt.

Der dritte Band dieses großen Zyklus ist aber auch der Entwicklungsroman eines jungen Mannes, der in einer schwierigen Zeit erwachsen wird.

"... solche Tage kehren nicht wieder, ich habe mich an Brüsten und Schenkeln satt gesehen! ... Aber in diesen schlimmsten geschwellten Priapenjahren ... ich konnte einfach nicht genug kriegen von diesem großen Körper mit seinen übermäßigen Rundungen ... Das war für mich der süßeste, schönste Körper, und ich habe nie verstanden ... noch heute nicht! ... warum man dicke Frauen für hässlich hält, und am wenigsten, warum sie sich selbst dafür halten ..."

Der Autor erzählt von der Schwierigkeit, in den Nachkriegsjahren in Ljubliana deutscher Abstammung zu sein und auf sich allein gestellt zu leben, nachdem die restliche Familie aus Slowenien ausgewiesen worden ist. Der Protagonist passt sich seiner Umgebung nicht an und ist dementsprechend hin- und hergerissen: beeindruckend, wie spannend Lojze Kovačič das Innenleben des jungen Mannes schildert.

Stilistisch außerordentlich brillant und überzeugend, folgt man dem Autor atemlos über die fast 600 leidenschaftlich aufwühlenden und erinnerungswürdigen Seiten. Nicht einmal Abschweifungen in die Politik und eine Art politischer Sprache unterbrechen diesen mit archaischer Wucht daherkommenden Text.

Die Übersetzung von Klaus Detlef Olof lässt keine Wünsche offen und liest sich wunderbar flüssig, als wäre sie das Original ...

Die drei Bände von "Die Zugereisten" sind ein immens wichtiger Beitrag zur Literaturgeschichte Sloweniens und Europas, eine literarische Sternstunde und drei Bände, die man vorzugsweise in der richtigen Reihenfolge lesen sollte.
Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 04/2012)


Lojze Kovačič: "Die Zugereisten. Eine Chronik. Drittes Buch"
Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof.
dtv, 2011. 598 Seiten.
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Lojze Kovačič (1928-2004) wurde in Basel als Sohn eines slowenischen Auswanderers und einer Deutschen geboren. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er in der Schweiz. 1938 wurde die Familie ausgewiesen und versuchte fortan, in Slowenien Fuß zu fassen. Kovačičs gesamtes literarisches Werk - zahlreiche mosaikartig gefügte Romane und Novellen - reflektiert das Schicksal seiner Familie. Ab 1997 war er außerordentliches Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaft und Kunst.

Die anderen Bände des Zyklus:

"Die Zugereisten. Eine Chronik. Erstes Buch"

Über Nacht muss die Familie des zehnjährigen Erzählers Basel verlassen und nach Slowenien zurückkehren, von wo der Vater einst ausgewandert war, denn Bürger ohne eidgenössischen Pass werden im Jahr 1938 aus der Schweiz ausgewiesen. Aus der Sicht des Kindes und zugleich mit dem sezierenden Blick des Außenseiters protokolliert Kovačič das vergebliche Bemühen der Familie, in der neuen Heimat Fuß zu fassen, das Ringen mit der fremden slowenischen Sprache und den ständigen Umgebungswechseln in den Vorkriegs - und Kriegsjahren. (dtv)
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"Die Zugereisten. Eine Chronik. Zweites Buch"
Ljubljana 1941: Der Krieg hat Jugoslawien erreicht, Terrorakte gehören zum Alltag, das tägliche Leben ist von Misstrauen geprägt. Seit ihrer Ausweisung aus der Schweiz kämpfen der 13-jährige Ich-Erzähler und seine Familie ums Überleben. (dtv)
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