Anna Kim: "Anatomie einer Nacht"
Dunkel,
poetisch, traurig, wundervoll ...
Die 1977 in Seoul geborene österreichische Schriftstellering
Anna Kim hat mit "Anatomie einer Nacht" einen neuen Roman vorgelegt. Es
handelt sich, nach "Die Bilderspur" und "Gefrorene Zeit", um ihren
dritten veröffentlichten Prosatext und auch ihren bislang
eindrucksvollsten Text. Und es ist, dankenswerter Weise, ein Text fern
von den modischen Befindlichkeitstexten, die derzeit so häufig
und gerne geschrieben werden.
Wie bereits in ihrem 2011 publizierten Essay "Invasionen des Privaten",
befindet sich der Leser in
Grönland. Er befindet sich in der
fiktiven Stadt Amâraq, in der sich in der Nacht vom 31.
August auf den 1. September elf Menschen das Leben nehmen.
Schon die ersten Zeilen ziehen den Leser tief in die Stimmung dieses
beeindruckenden Romans hinein.
Anna Kim kreiert eine wundersam trostlose und echt anmutende
Atmosphäre, die, gepaart mit der sprachlichen Finesse dieses
Texts, für das Gelingen dieses doch recht riskanten
Unterfangens verantwortlich ist.
Elf Selbstmorde,
die scheinbar in keinem Zusammenhang zueinander stehen. Alle in einer
Nacht. Alle in einer Kleinstadt in Grönland, wo man sich
gegenseitig keine Konkurrenz macht und es dementsprechend nur einen
Automechaniker, ein Restaurant, einen Waschsalon und ein
Kleidungsgeschäft gibt.
Wieso treten elf hauptsächlich junge Menschen in einer Nacht,
in der Zeitspanne von fünf Stunden, in Amâraq ihren
jeweils letzten Weg per Suizid an?
Diese Frage ist allgegenwärtig. Während Anna Kim die
verschiedenen traurigen Protagonisten ihres Romans in ständig
wechselnden Erzählperspektiven und unter Zuhilfenahme von
unaufhörlichen Zeitsprüngen ihre Geschichten
erzählen lässt, fügen sich die Puzzleteile
langsam aber sicher zu einem Ganzen. Der komplette Text ist also so
etwas wie eine Zusammenführung vieler kleiner Wahrheiten und
Informationen zu einem Gesamtbild; ein Bild, das aus den verschiedenen
Wunden besteht, die sich die Einwohner dieser
grönländischen Kleinstadt im Laufe der Jahre
zugefügt haben.
Berauschend auch die Zeichnung der grönländischen
Landschaft, die literarische Vermittlung der kalten, dunklen,
trostlosen und trotz allem zauberhaften Farben einer archaisch
schönen Natur.
"Am Ende der Welt ist es selbstverständlich, dass
alle Enden zusammenlaufen, und es ist natürlich, dass dies
während der Nacht geschieht, denn die Nächte
in
Amâraq sind Abschlüsse, sie sind der Punkt, an dem
das Unvermeidbare seine Unvermeidbarkeit einsieht und sich ihr ergibt,
weil die Schwärze eine Endgültigkeit in sich
trägt, aber auch etwas Trostreiches. Sie bietet Geborgenheit
innerhalb einer Verborgenheit, die sich nur dann entwickelt, wenn das
Sehen abgestellt wird."
Formal eindrucksvoll gelöst, sprachlich brillant,
beschreibt der Text immer größer werdende Kreise,
die zielstrebig darauf bedacht sind, den Sinn und die Motivation dieser
elf Selbstmorde
aufzudecken.
"Es muss so sein, denkt Sara, dass, wenn die Dinge zu Ende
gehen, auch die Erinnerungen verschwinden, eine nach der anderen, denn
im Grunde sind es die Erinnerungen, die die Dinge lebendig machen.
Ohne
Erinnerungen gäbe es sie nicht, sie verbessert sich, ohne
Erinnerungen hätten sie nicht die Bedeutung, die sie haben und
wären schon in dem Moment, in dem sie sich ereignen,
ungültig -"
Vom Lieben und vom erzwungenen Zustand der verweigerten Liebe, von der
verweigerten Elternliebe,
von der Kraft der Erinnerung, vom
kontinuierlichen Rückzug in die Einsamkeit und von den damit
verbundenen Konsequenzen erzählt dieser Roman, den der
Rezensent zu den aufregendsten und sprachlich schönsten
deutschsprachigen Texten der letzten Jahre zählt.
(Roland Freisitzer; 09/2012)
Anna
Kim: "Anatomie einer Nacht"
Gebundene Ausgabe:
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Digitalbuchausgabe:
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