Vladimir Jankélévitch: "Die Ironie"
Kulturgeschichte und
Facetten der Ironie
Wer ist oder wer war eigentlich Vladimir Jankélévitch, wird sich manch
ein Leser fragen. In der vorliegenden deutschen Erstausgabe seiner
Betrachtungen über die Ironie findet sich nämlich keinerlei Hinweis auf
diesen Autor. Es gibt keinen Klappentext, kein erläuterndes Vor- oder
Nachwort. Stattdessen acht unbeschriebene Seiten ganz am Schluss des
Buches. Da der Verlag den Lesern aus irgendwelchen Gründen Informationen
zum Autor vorenthält, muss also das Netz zur Recherche herhalten. Und
dort findet man wahrhaft Erstaunliches: Vladimir Jankélévitch war ein
französischer Philosoph und Musikwissenschaftler, 1903 in Bourges
geboren, am 6. Juni 1985 in Paris gestorben. Sein Werk ist bis heute
weitgehend unbekannt geblieben, eine zeitlang erfuhr er eine gewisse
Anerkennung in Frankreich und in Italien, vor allem aufgrund seiner
musiktheoretischen Schriften. Der deutschen Kultur, von der er sich nach
dem Zweiten Weltkrieg radikal distanzierte, warf er vor, den Holocaust
nicht nur nicht verhindert, sondern ihn gar hervorgebracht zu haben.
(Diese Informationen finden sich bei "Wikipedia".) Im Feuilleton der
"FAZ" vom 18.03.2003 war unter Anderem zu lesen, dass Jankélévitch eine
Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich unerträglich war, und
dass er sogar die Musik des Österreichers Franz
Schubert als vergiftet ansah. Die "unnachahmliche Mischung aus
metaphysischer Pedanterie und Sadismus" bezeichnete er als eine
deutsche Spezialität. Jankélévitch wurde während der NS-Zeit von den
Nazis verfolgt. Vor diesem historischen Hintergrund muss man dann wohl
auch sein Weltbild betrachten. Und so wundert es auch nicht, dass der
vorliegende Text (frz. Originalausgabe 1964) nicht frei von Tendenziösem
ist.
Nun zum Inhalt des Buches: Die Bewegung des ironischen Bewusstseins
beginnt für Jankélévitch bei Sokrates, der eine feinsinnige Ironie
pflegte, auf welche dann der gröbere Zynismus eines Diogenes folgte. Die
Ironie des
Sokrates ist "Geschmeidigkeit, das heißt extremes Bewusstsein.
Sie macht uns, wie man sagt, auf das Wirkliche aufmerksam und
immunisiert uns gegen Engstirnigkeit und die Entartungen eines
unnachsichtigen Pathos, gegen die Intoleranz eines ausschließlichen
Fanatismus." In anderen Worten: "Ironie ist die ein wenig
melancholische Fröhlichkeit, die uns die Entdeckung einer Pluralität
einflößt; unsere Gefühle, unsere Ideen müssen auf ihre herrschaftliche
Einsamkeit zugunsten von entehrenden Nachbarschaften verzichten."
Diese Definitionen der Ironie lassen schon erahnen, dass dies kein
einfacher, kein leicht verständlicher Text ist.
Vladimir Jankélévitch unterscheidet zwischen verschiedenen Registern der
Ironie wie die sich gestisch ausdrückende pantomimische Ironie, die
zeichnende und modellierende plastische Ironie und die nuancenreichste
Ironie, nämlich die des gesprochenen bzw. geschriebenen Wortes. Und
überall, wo die Ironie, welcher Kategorie auch immer, auftritt, bringt
sie mehr Licht, mehr Wahrheit mit sich, um sie auf den ironisierten
Gegenstand zu übertragen. In Jankélévitchs Worten:
"Die Ironie ist ihrerseits die bilaterale Korrelation von zwei
Aktivitäten, die sich gegenseitig erwärmen, da der Ironisierte durch
die Ironie selbst in den Rang des Ironikers erhoben wird." Und: "Die
Ironie hält dem die Stange, den sie in die Irre treibt. Es liegt an
uns, diese hilfreiche Stange zu ergreifen (denn man kann das Heil
nicht gegen den Willen der Leute bringen)."
Ironie ist nach Jankélévitch auch eine Kunst des Verschweigens und der
Anspielung, sie zielt mehr auf das Charakteristische als auf das
Vollständige. Dem "lächelnden Gesicht des ironischen Konformismus"
stellt der Autor die Parodie und den Zynismus gegenüber, grob gewebt,
rein negativ und mehr schauspielerisch als philosophisch. Doch auch eine
Form der bösartigen Ironie beschreibt Vladimir Jankélévitch. Eine
Ironie, die das durch sie ausgelöste Lachen sogleich zur Grimasse
erstarren lässt. Da "spielt die Ironie mit dem Feuer, und indem sie
die anderen zum Narren
hält, betrügt sie sich manchmal selbst." Dann wird sie zur "Nihilisation
aller objektiven Inhalte."
Jankélévitch betrachtet die Ironie ebenso auch als eines der Gesichter
der Scham, die für ihn die "Ahnung einer spirituellen Würde"
darstellt,
"die den Seelendingen eigen ist und die man schänden könnte, wenn man
durch dumme Freimütigkeit ihre Vertraulichkeit entwürdigt." Und
die Ironie ist dann "eine Scham, die sich, um das Geheimnis zu
dämpfen, eines Vorhangs aus Scherzen bedient."
Der Humor stellt eine weitere Facette der Ironie dar. Und dieser
humorigen Ironie, das, was Schopenhauer
als "den doppelten Kontrapunkt der Ironie" bezeichnet, haftet
eine gewisse Bescheidenheit an, "sie befriedet die grausamen
Antithesen des Sarkasmus durch eine versöhnende Vermittlung."
Am Ende zitiert Jankélévitch Proudhon, den er ein Loblied auf die Ironie
singen lässt: "Sanfte Ironie! Du allein bist rein, keusch und
diskret. Du gibst der Schönheit Anmut und der Liebe Würze; du flößt
Barmherzigkeit für die Toleranz ein; du zerstreust das menschentötende
Vorurteil; du verschaffst dem Fanatiker und Sektierer Heilung, und die
Tugend, oh Göttin, auch das bist du. Komm, höchste ..."
Leider ist der Text in einigen Passagen recht unverständlich und
überdies umständlich formuliert. Das liegt nicht zuletzt auch an den
zahllosen Fremdwörtern sowie lateinischen und griechischen Vokabeln und
Zitaten. Bis zur Wortschaumschlägerei geht das manchmal, die Sprache
versteigt sich zu aufgeblasenem, unverdaulichem Bombast. Wenn der Autor
beispielsweise in verschachtelten Bandwurmsätzen über die "eudemische
Ethik der Megalopsychia" schwadroniert oder sich über "die
beiden Chiasmen der vergrößernden Emphase und der einschränkenden
Litotes" auslässt, vermag ihm kaum jemand zu folgen, der
nicht ein paar Semester Philosophie studiert hat. Auf Seite 115 packt er
sage und schreibe 156 Wörter in einen einzigen, schwer verständlichen
Satz, der wie folgt beginnt: "Was hier die Originalität, die die
Aporie erzeugende Atopie ausmacht, ist der Kontrast zwischen einer
Form, die grammatisch den Maximen der großen Menge konform ist, und
einer Absicht, die man in pneumatischer Hinsicht subversiv zu sein
ahnt: ..." Schwadronieren auf hoher Stufe, aber eben
Schwadronieren.
Wie bereits erwähnt, war Vladimir Jankélévitch nicht nur Philosoph,
sondern auch Musikwissenschaftler. Als solcher befasste er sich aber
augenscheinlich vorwiegend oder fast ausschließlich mit französischen
Komponisten (Fauré, Debussy, Satie, Mompou, Chabrier, Poulenc, Milhaud
und vielen anderen), in deren Musik man angeblich "den reinen
Sauerstoff des Geistes atmet." Und:
"Sie haben so viel zu sagen, und sie sagen es so gut!" Dagegen
begegnet er deutschen und österreichischen Musikern und auch
deutschsprachigen Autoren mit unverhohlener Geringschätzung wenn nicht
gar Verachtung, nennt Friedrich Schlegel den "Sokrates der
Bierkneipen" und "Verteidiger der Philister". Robert
Schumanns Davidsbündler sind für Jankélévitch "eine nicht ernst zu
nehmende Liga" und überhaupt die
deutschen Romantiker,
"die so steif, so germanisch, so pedantisch, bis in ihren Mondschein
so bürgerlich provinziell sind."
Gewiss enthält Jankélévitchs Buch über die Ironie viele bemerkenswerte
Ansätze und auch tiefe Gedanken, wobei man sich manchmal des Eindrucks
nicht erwehren kann, dass hier der Anschein von Tiefe nur durch
Unverständlichkeit hervorgerufen wird, denn auch trübe und flache Tümpel
erscheinen manchmal tief. Ich jedenfalls war froh, als ich die Lektüre
endlich hinter mich gebracht hatte.
(Werner Fletcher; 12/2012)
Vladimir Jankélévitch: "Die Ironie"
Aus dem Französischen von Jürgen Brankel.
Suhrkamp, 2012. 185 Seiten.
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Weitere
Bücher des Autors:
"Der Tod"
Herausgegeben und mit einer Nachbemerkung von Christoph Lange. Mit einem
Nachwort von Thomas Kapielski.
Warum ist der Tod eines Menschen immer eine Art Skandal? Warum ruft
dieses ganz normale Ereignis bei jenen, die dabei Zeuge sind, ebensoviel
Neugier wie Grauen hervor? Wie kommt es, dass man sich nicht längst an
dieses natürliche und doch stets zufällige Geschehen gewöhnt hat? Warum
sind wir jedesmal, wenn ein Lebender stirbt, so erstaunt, als geschehe
dies zum ersten Mal?
Das sind die Fragen, die sich der große französische Philosoph Vladimir
Jankélévitch in seinem philosophischen Hauptwerk stellt, das zugleich
die Leitlinien seines gesamten Schaffens aufnimmt und bündelt. In jedem
seiner Bücher hat er versucht, den Grenzfall, die Extremsituation zu
erfassen und für sie Begriffe zu finden. Denn an dem Punkt, wo der
Mensch an diese Grenzen rührt, ist er der äußersten menschlichen
Erfahrung ausgesetzt, einer Erfahrung, in der das Geheimnis, das
Unaussprechliche und das Ungewisse den Übergang vom Sein zum Nichts oder
vom Wesen in das Absolut-Andere aufzeigen. Vladimir Jankélévitch
analysiert das Ereignis des Todes in seiner ganzen Banalität und
Fremdheit, in seiner Widersprüchlichkeit und auch im Kontext der
komplexen Auslegungen, die der Tod in der Geschichte der Philosophie
erfahren hat. (Suhrkamp)
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"Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie"
Herausgegeben von Ralf Konersmann. Mit einem Vorwort von Jörg Altwegg.
In seinem Heimatland Frankreich wird Vladimir Jankélévitch heute als
einer der zentralen Philosophen des 20. Jahrhunderts angesehen. Lange
Zeit galt der Nachfahre jüdisch-russischer Einwanderer jedoch als
"heimatloser Philosoph", der nicht gewillt war, um die Gunst der
öffentlichen Meinung zu buhlen. Jankélévitch war ein Philosoph des
Engagements, nichts hat nachhaltiger seine Themenwahl bestimmt als seine
Jahre in der Résistance. Er hat über den Tod geschrieben, über die Liebe
und die Lüge - am eindringlichsten aber über das Verzeihen. Der
Holocaust war für Jankélévitch ein Kulturbruch, der die Grenzen des
Verzeihens definitiv überschritt; er blieb unversöhnt und untersagte
sich nach dem Krieg jede Verbindung mit Deutschland. Die vorliegende
Auswahl präsentiert das Denken eines unbequemen, ja fordernden
philosophischen Schriftstellers. Eine Entdeckung. (Suhrkamp)
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Weitere Lektüretipps:
Nadja Müller: "Moral und Ironie bei Gottlieb Wilhelm Rabener.
Paratext und Palimpsest in den 'Satyrischen Schriften'"
Rabeners Spiel mit der Satiretradition und den Konventionen der
Aufklärungspoetik - erstmalig erschlossen.
Die "Sammlung satyrischer Schriften" Gottlieb Wilhelm Rabeners
erschien in erster Auflage 1751-1755. Nadja Müller erschließt diese
Texte erstmals als komplexes Spiel mit der Satiretradition sowie den
Konventionen der Aufklärungspoetik. Die vermeintlich
trocken-moralisierende explizite Satirekonzeption in den rahmenden
Vor- und Zwischenworten darf nicht ohne ironischen Subtext gelesen
werden, der auf Rabeners ironische Grundhaltung im Bewusstsein seiner
Pflichten als "guter Bürger" verweist. Die implizite Satirekonzeption,
bei der er durchgängig Herausgeber- und/oder Autorfiktionen verwendet,
erweist sich als eine subversiv gesellschaftskritische Poetikstrategie
mit moralisch-ästhetischem Anspruch in Zeiten von Zensur und
Militarismus. Diese Strategie wird anhand der Paratext- und
Palimpseststruktur und des Verhältnisses von Satire und Ironie
dargestellt. So werden Rabeners satirische Schriften als Praxis einer
ironischen Ethik charakterisiert, die sowohl eine moralische
Lebensmaxime als vir bonus in der Tradition des Horaz und im Sinne
Shaftesburys didaktisiert als auch die literarischen
Umsetzungsmöglichkeiten reflektiert und in ihre Grenzen verweist.
(Wallstein)
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Ralf
Konersmann: "Die Unruhe der Welt"
Über die Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.
Einst galt die dauerhafte Ruhe als Bedingung von
Glück.
Heute jedoch wird Unruhe belohnt, das Immer-Unterwegs-Sein, die
permanente Veränderung.
Der bekannte Kulturphilosoph Ralf Konersmann rekonstruiert, wie die
westliche Kultur ihr Meinungssystem revolutionierte und von der
Präferenz der Ruhe zur Präferenz der Unruhe überging. Mit genealogischem
Blick nimmt er die Unruhe nicht einfach als gegeben, sondern arbeitet
heraus, wie sie überhaupt ihren Status hat erlangen können. Denn die
Unruhe ist weder bloß Subjekt noch bloß Objekt, sie ist weder Innen noch
Außen, weder Mittel noch Zweck, sondern jederzeit beides zugleich.
Eine analytisch klare und stilistisch brillante Reise durch die
geschichtlichen Stationen einer Vorstellung, die uns heute permanent am
Laufen hält und die uns so selbstverständlich erscheint, dass niemand
sie grundsätzlich hinterfragt.
Ralf Konersmann, geboren 1955, ist Professor für Philosophie an der
Universität Kiel und Direktor des dortigen Philosophischen
Seminars. Er ist u. A. Wissenschaftlicher Beirat der "Allgemeinen
Zeitschrift für Philosophie", Mitherausgeber der "Zeitschrift für
Kulturphilosophie" sowie des "Historischen Wörterbuchs der Philosophie".
Zuletzt ist das von ihm herausgegebene "Wörterbuch der philosophischen
Metaphern" als Studienausgabe (Darmstadt 2014) erschienen. (S. Fischer)
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Martin Walser:
"Selbstbewußtsein und Ironie. Frankfurter Vorlesungen"
Sein Ziel in den fünf Vorlesungen über die "Ironie als ein Verhältnis
zu Geschichte" ist es, den herrschenden, im 20.Jahrhundert vor allem
an Thomas Mann orientierten Begriff der Ironie in Frage zu stellen. Zu
diesem Zweck setzt er sich einerseits mit einer literarischen
Tradition auseinander, die mit der Definition der romantischen Ironie
durch Friedrich Schlegel begann und mit Thomas Manns "Tonio Kröger"
und "Lotte in Weimar" ihren Höhepunkt erreichte. (Suhrkamp)
Buch
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