Gunnar Decker: "Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten"
Biografie
"Bitte
keine Besuche!"
Den 50. Todestag Hesses im August 2012 nehmen einige Verlage zum
Anlass, das Angebot zu diesem großen deutschsprachigen Autor
des frühen 20. Jahrhunderts zu erweitern.
Während das Angebot an Primärtexten inzwischen sehr
erfreulich ist, fehlte bislang jedoch eine umfassende, ein
große Biografie, die Leben und Werk gleichermaßen
und auch umfänglich präsentierte. Und Gunnar Deckers
vorliegendes Werk schickt sich an, diese Lücke nun zu
schließen.
Vorworte in Biografien enthalten gelegentlich Einblicke in das
Selbstverständnis der jeweiligen Autoren, die es lohnen
hervorgehoben zu werden. So auch hier, wo der Autor Kluges ausspricht: "Ein
Biograph
sollte nicht glauben, er habe eine Art polizeilichen
Ermittlungsauftrag zu erfüllen und müsse nun immer
neue Indizien zur Enthüllung von etwas aufbieten, das der
Autor selbst verbergen wollte. [...] Doch der Gegenstand einer
Biographie ist in den meisten Fällen kein einer Verfehlung zu
überführender Delinquent. Irrtümer sind
Legion, sie gehören zur Lebens- und Werksubstanz, aber was ist
hier Schuld und wer befindet über sie?" Solche
Formulierungen lassen hoffen, am Ende die fein abgestimmte
Gratwanderung in Händen zu halten, die sich ausbalanciert
zwischen Nähe und Distanz bewegt, das Private privat sein
lässt und dem Öffentlichen Begriffe gibt. Diesem
Anspruch ist der Autor, so viel sei hier eingestanden, auf
bewundernswerte Weise gerecht geworden.
In vielen Schriftstellerviten lässt sich ein gemeinsames
Element in Kindheit und Jugend ausmachen: Die Qual, die Pein. Ebenso
wie die strenge Zucht in absolutistischen Systemen - man denke an Carl
Eugen und seinen angehenden Militärarzt Schiller - erwies sich
der sittenstrenge Pietismus als Nährboden literarischen
Wirkens. Die Literatur jedoch durchdringt die hermetische Schale der
Sozialisation, die gequälte Seele atmet durch. Hesses
Elternhaus im schwäbischen Nagoldtal war ein Musterfall
fatalistischen und sittenstrengen Pietismus-Milieus, denn beide Eltern
waren bereits in Missionsdiensten in Indien. "Kinderseelen
zählen nicht viel bei den Pietisten, wohl überhaupt
wenig am Ende des 19. Jahrhunderts", schreibt Decker. Dass
aber auch insbesondere Hesses Mutter aus den ihr selbst
zugefügten Liebesentzügen wenig Lehren für
die Erziehung ihre eigenen Kinder zieht, machte Hesse zeit seines
Lebens zu schaffen.
Der schwäbische Erfolgsweg jener - auch bereits
früherer - Tage bestand aus dem Landesexamen, danach den
Eliteschulen Maulbronn, Blaubeuren oder Urach, und am Ende stand das
Tübinger Stift, Grundlage jeder höheren Verwendung im
Lande. Schon in Maulbronn bricht sich der Dichter in Hesse Bahn, und
der Rebell tritt zutage, der auch einfach einmal einen Tag
verschwindet. Doch das widerspricht den Maulbronner Regularien, und
diese Karriere findet hier ihr abruptes Ende. Eine
unglückliche erste Liebe trifft ihn im Kern, und er besorgt
sich eine Waffe, um sich das Leben zu nehmen. Und so landet Hesse in
der Irrenanstalt Stetten, signiert nun mit Nihilist, empfindet Gott als
Wahn und betrachtet
diesen Christus als Menschen. Er hadert mit seiner Familie: Ihr
seid
Christen, und ich - nur ein Mensch. Die Umwelt reagiert
mit den gebotenen Mitteln und empfiehlt derweil, was sie in solchen
Fälle immer empfiehlt, strenge Zucht. Schreiben wird da zur
lebensrettenden Therapie. Dichter wollte er werden oder gar nichts.
Doch wie wird man Dichter?
Nach einem Praktikum im schnöden Metallhandwerk schafft Hesse
es doch, sich nebst Lehre im Buch- und Antiquariatsbuchhandel
einzurichten. Das war die wirtschaftliche Existenz, die Platz
ließ für literarische Gehversuche, gar für
einen Dichterzirkel namens "Petit cénacle". Die Moderne des
angehenden 20.
Jahrhunderts fördert Hesses Hang zur
Neoromantik, die auch seine Sehnsucht nach Italien antreibt. Mit "Peter
Camenzind" traf er 1903 den Nerv der Zeit und landet einen Treffer, der
ihn im Sommer 1903 bei Wattenwyl in Basel kündigen
lässt. Als im Februar 1904 die Buchausgabe von "Peter
Camenzind" erscheint, ist diese bereits nach 14 Tagen vergriffen.
Schon 1903 arbeitet er an seinem nächsten Erfolg: "Unterm
Rad". Decker schreibt:
"Hesses 'Unterm Rad' lediglich als eine Anklage gegen das
Schulsystem seiner Zeit zu verstehen heißt, es
misszuverstehen." Es folgt eine kluge Analyse des
Stückes, dessen Aktualität einem zeitlosen,
abstrakten Prinzip geschuldet ist, das in unserer Gesellschaft nach wie
vor wirkt - trotz Kuschelecken und pädagogischen Inseln in den
Schulen oder dergleichen in den Betrieben. Ob Hesse ein zeitloses
Prinzip freigelegt zu haben glaubte, ist kaum anzunehmen, denn in
seiner Schonungslosigkeit erschien ihm dieses Werk später auch
als zu streng entworfen. Doch wer heute durch die Klosteranlage von
Maulbronn wandelt, verspürt den basso continuo der
pietistischen Lehranstalt immer noch in diesen alten Gemäuern,
in der zugigen Basilika, den drückenden Refektorien. "Unterm
Rad" ist die Analyse, spätere Werke oft die Therapie.
Schillers Pflanzschule in Ludwigsburg ist Hesses Internat in Maulbronn:
Ohne Pflanzschule kein Schiller,
ohne Maulbronn kein Hesse. Schiller
wäre Arzt geblieben, Hesse höherer
Verwaltungsangestellter geworden. Autor und Rezensent hätten
sich ein anderes Thema suchen müssen.
Im anno 1919 erschienenen "Zarathustras Wiederkehr" liest er der
orientierungslosen Jugend die Leviten und mahnt am Ende, auf die innere
Stimme zu hören: "Lasset euch von keinem Redner und
von keinem Lehrer einen Vogel ins Ohr setzen, er heiße, wie
er wolle. [...] Höret auf den Vogel! Höret auf die
Stimme, die aus euch selber kommt!" Es seufzt der heutige
Leser angesichts dieser Mahnung. Der Gedanke "Sei Du selbst!", der auch
ein wenig an Kants
sapere aude erinnert, trägt auch den Roman "Siddhartha".
Ob
Kant dem buddhistischen Ansatz hätte folgen
können, darf man bezweifeln, wenngleich der ehemalige
Kantianer Schopenhauer
einen ähnlichen Weg gegangen war. "Sei
Du selbst!", "Trage Verantwortung für Dich selbst!" passen
natürlich nicht zu der Grundstimmung eines verlorenen
Weltkrieges, zumal vorgetragen von einem, der es sich im Tessin bequem
macht, während die Bevölkerung in Deutschland sich
mit dem wirklichen Leben auseinandersetzt, wie sie glaubt.
Im Jahr 1925 bereist er Deutschland: "Hesse fährt
über die Grenze nach Deutschland, um seinen Frieden mit jenen
Orten zu machen, die er einst rebellierend verließ [...]",
schreibt Decker.
Im Winter 1926/1927, den er in Zürich verbringt, entdeckt der
Eremit und Berührungsneurotiker das Nachtleben und nimmt sogar
Tanzstunden. "Ich hatte dieses Erlebnis noch nicht gekannt,
auch nicht im Weinrausch, daß man sein Ich verliert und in
einer Menge einfach untergeht. Diese Lust, dieser Rausch aus Wein,
Geselligkeit, Geschlecht, Wärme, Musik war eine
schöne Sache, ich bin dankbar dafür." Da
stolpert der Steppenwolf persönlich durch die
nächtlichen Dionysien des Züricher Karnevals. Als
sechs Monate später sein Freund und Biograf Hugo Ball starb,
begann, so Decker, Hesses Alterswerk.
Deckers Werksicht macht Lust auf die kleinen Perlen seitlich des Weges,
"Wanderung" sei da genannt oder auch "Zarathustras Wiederkehr",
"Klingsors letzter Sommer" (Herzstück nach Decker). Hesse hat
eine höhere Betriebstemperatur als sein Pendant Thomas Mann,
ist in vielen Aspekten das ungefähre Gegenteil
Manns. Dessen peinliches Rechtfertigungswerk "Gedanken eine
Unpolitischen" dürfte Hesse im Halse stecken geblieben sein.
Anno 1945 fand er, ebenso wie 1918, nicht den rechten Ton, um mit
seinen ehemaligen Landsleuten ins Gespräch zu kommen. Es
fehlte wohl das Gefühl für die jeweils andere
Gemütslage. Seiner Warnung vor der Gefahr eines lauernden
Nachkriegsnationalismus' haftet nichts Ungebührliches an, aber
er erreicht die verletzte Volksseele nicht und wird wie der Exilant
wahrgenommen, der in warmen, trockenen Windeln aus seinem Tessiner
Adlernest heraus doziert.
Hesses Übellaunigkeit kann er in den unruhigen und
ungeordneten Nachkriegsjahren zu neuen Höhen treiben, selbst
"Goethe-Preis" und "Nobelpreis"
vermögen nicht, bis zu seinem
menschlichen Kern vorzudringen. Immerhin erreicht ihn seit 1933 nur ein
Bruchteil seiner deutschen Tantiemen. Und auch nach 1945 läuft
die Verlagsarbeit nur schwerfällig an, das "Glasperlenspiel",
geschrieben für ein großes deutsches Publikum, liegt
nur in einer geringen Schweizer Auflage unbeachtet im Handel. In dieser
Zeit entstehen aus dem von Peter Suhrkamp geleitet Verlag Fischer unter
großem Knirschen zwei Verlage: Fischer und Suhrkamp, und
Peter Suhrkamp wird Hesses kongenialer Verleger.
Rückblickend schrieb Hesse: "Meine Dichtungen sind
alle ohne Absichten, ohne Tendenzen entstanden. Wenn ich aber
nachträglich nach einem gemeinsamen Sinn in ihnen suche, so
finde ich allerdings einen solchen: ... eine Verteidigung (zuweilen
auch Notschrei) der Persönlichkeit, des Individuums ... Der
einzelne, einmalige Mensch mit seinen Erbschaften und
Möglichkeiten, seinen Gaben und Neigungen ist ein zartes,
gebrechliches Ding, er kann wohl einen Anwalt gebrauchen."
Einen bedeutenden Schriftsteller zeichnet aus, dass er die
Entwicklungen und Brüche seiner Zeit in Echtzeit
herausarbeitet und in literarische Figuren gießt. Er
destilliert also gewissermaßen das Geschehen der Zeit zu
abstrakten Prinzipien und bildet diese Prinzipien in literarischen
Figuren ab. 50 Jahre später ist das keine Kunst, aber
gewissermaßen im laufenden zeitgeschichtlichen Betrieb bedarf
es einer feinen Sensorik, diese oft feinen Risse aufzuspüren
und ihnen Raum zu geben. Eine solche Zeit der Unstetigkeiten und
Brüche erstreckt sich vom fin de siècle bis zum
Ende der Zwanzigerjahre, was man an der signifikanten Häufung
bedeutender Literaten in dieser Epoche nachvollziehen kann. Das ist
auch die große Zeit Hesses, da entstehen - sieht man vom
"Glasperlenspiel" ab - auch die großen Werke Hesses, seine
nie ausgehenden alter egos. Die Zeit danach produzierte hingegen eine
auffallende Sprachlosigkeit - damals wie heute.
Ein Biografie, comme il faut, ist man versucht zu sagen. Je nach
Vorkenntnissen und Interessenlage würde man an der einen oder
anderen Stelle noch gerne etwas länger verweilen, doch das ist
das Los thematisch so breit angelegter Werke wie Biografien es nun
einmal sind. Man muss aber konzedieren, dass da schon sehr viel Hesse
drinsteckt, das Leben vorzüglich erzählt und das Werk
sehr weitgehend und kompetent und teils wirklich brillant analysiert.
Auch dem Lektorat muss man ein Lob aussprechen, wenngleich das Werk nur
fast fehlerfrei gelang. Des großen Mannes
würdig!
(Klaus Prinz; 03/2012)
Gunnar
Decker: "Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten"
Carl Hanser Verlag, 2012. 703 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Gunnar
Decker, geboren 1965 in Kühlungsborn, lebt als Autor in Berlin
und ist Redakteur der Zeitschrift "Theater der Zeit". Der promovierte
Philosoph veröffentlichte zuletzt: "Gottfried Benn. Genie und
Barbar" (2006), "Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns"
(2009) und "Georg Heym. 'Ich, ein zerrissenes Meer'" (2011).
Weitere Buchtipps:
Heimo Schwilk: "Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers"
Mit seinen Romanen wurde Hermann Hesse weltberühmt. Die
Biografie von Heimo Schwilk zeigt, dass der Kultautor nicht weniger
exzentrisch und widersprüchlich lebte als die Helden seiner
Bücher.
Mit Romanen wie "Unterm Rad", "Demian" und "Der Steppenwolf" hat
Hermann Hesse Generationen von Lesern in seinen Bann gezogen. Weltweit
wird heute kein deutscher Autor des 20. Jahrhunderts mehr gelesen als
er. Dabei verlief das Leben des "Glasperlenspielers" bei Weitem nicht
so beschaulich, wie es im Rückblick scheint. Schon als junger
Mann empfand er es als Befreiung, der Enge seines pietistischen
Elternhauses zu entfliehen und seiner Berufung zum Dichter zu folgen.
Und ob Pazifist, Buddhist oder ruheloser Nomade - Hesse hat sich immer
wieder neu erfunden. Am Ende blieb er doch nur einem treu: sich selbst.
(Piper)
Buch
bei amazon.de bestellen
Hermann
Hesse: "'Ich
gehorche nicht und werde nicht gehorchen!' Briefe 1881-1904"
Herausgegeben von Volker Michels.
Diese Sammlung von Hermann Hesses fulminanten Jugendbriefen
überliefert den ebenso dramatischen wie spannenden
Hindernislauf eines begabten, für die theologische Laufbahn
bestimmten Missionarssohns, der sich bereits im Alter von
zwölf Jahren in den Kopf gesetzt hatte, "entweder
ein Dichter oder gar nichts" werden zu wollen.
Nach einer teils in Calw, teils in Basel verbrachten Kindheit beginnt
er sich den Plänen der Eltern zu widersetzen, flieht aus dem
Theologischen Seminar, versucht sich das Leben zu nehmen, wird in eine
Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische eingewiesen und
verlässt mit Sekundareife das Gymnasium, bis endlich nach
Umwegen sein Traum, ein Dichter zu werden, in Reichweite
rückt. Erste Veröffentlichungen wecken das Interesse
bedeutender Verleger wie Samuel Fischer, der mit Hesses
Romandebüt "Peter Camenzind" seinen nach Thomas
Manns
"Buddenbrook"s damals größten Erfolg erzielte.
Nach jahrelangem Aufbegehren und einem energisch verfolgten,
autodidaktischen Literaturstudium, das diese Briefe gleichfalls
dokumentieren, sind schließlich die Weichen gestellt
für den Werdegang eines der einflussreichsten Autoren des 20.
Jahrhunderts. Selten kann so anschaulich wie in den mehr als 200
Schreiben dieses Bandes ein schließlich geglückter
Emanzipationsvorgang auf so bewegende Weise dargestellt werden wie am
Beispiel der Jugendgeschichte Hermann Hesses. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Bärbel Reetz: "Hesses Frauen oder
der andere Blick"
Im März 1925 schreibt Mia Hesse, die erste Ehefrau Hesses und
Mutter seiner drei Söhne, an eine Freundin: "Ich
fühle mich nicht mehr mit ihm verbunden. Ich könnte
nie mehr mich seiner Überlegenheit fügen. Das ist
vorbei, denn er kann mir nur noch als Dichter etwas geben."
Da war Hermann Hesse bereits seit zehn Monate mit der 20 Jahre
jüngeren Sängerin Ruth Wenger verheiratet, von der er
sich 1927 scheiden ließ, um vier Jahre darauf die 19 Jahre
jüngere Ninon Dolbin-Ausländer zu heiraten.
Man kennt ihn, den Dichter Hermann Hesse. Sein Werk: in aller Welt.
Über seine Frauen weiß man wenig. Nur eine seiner
Frauen, Ruth Wenger, hat fast ein halbes Jahrhundert nach der
Scheidung, auf wenigen Seiten ihre Erinnerungen notiert - verbittert
darüber, "daß die Bedeutung, die ich in
Hermann Hesses Leben hatte, in allen Biographien verschwiegen,
verwischt, tot geschwiegen wurde."
Gestützt auf Dokumente aus dem Nachlass, darunter
zahlreiche unveröffentlichte Briefe, richtet
Bärbel Reetz ihren Blick auf Hermann Hesses Frauen,
die Fotografin Maria Bernouilli, die Sängerin Ruth Wenger und
die Kunsthistorikerin Ninon Dolbin-Ausländer.
Drei Ehen, zwei Scheidungen, drei Schicksale. Indem Bärbel
Reetz die Porträts dreier ungewöhnlicher Frauen
zeichnet, macht sie auch neue, bisher wenig beachtete Facetten der
Persönlichkeit Hesses sichtbar. (Insel)
Buch
bei amazon.de bestellen
Thomas Lang: "Immer nach Hause" Zur Rezension ...