Alan Pauls: "Geschichte der Haare"


Von der Unausweichlichkeit des Haarwuchses

Argentinien hat die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts mit großartigen, genialen und vor allem vielen höchst originellen Autoren beschenkt.
Alan Pauls ist Argentinier und ein höchst origineller und sprachmächtiger Schriftsteller, dessen Romane in deutscher Sprache seit einigen Jahren in ausgezeichneten Übersetzungen im Klett-Cotta Verlag erscheinen.

"Geschichte der Haare" ist nach "Geschichte der Liebe" der zweite Teil einer Trilogie, deren dritter Teil von Finanzen bzw. von Geld handeln soll.
Dem Titel entsprechend geht es in diesem Roman in erster Linie um das Haar. Oder auch um Haarwuchs. Oder auch die verschiedenen Möglichkeiten, mit den Haaren umzugehen. Waschen, schneiden, legen, rasieren, kämmen, mit Gel in Form bringen, sowie föhnen, oder die Verwandlung von glattem Haar zu einer prächtigen, möglicherweise auch blondierten Afro-Mähne.

Natürlich geht es, wie in der argentinischen Literatur der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, um viel mehr. Zum Beispiel um die Politik.

Aber zurück zum Anfang des Romans ...
"Kein Tag vergeht, an dem er nicht an seine Haare denkt. Stark schneiden oder wenig, ruckzuck abschneiden, waschen lassen, gar nicht mehr schneiden oder raspelkurz, sich ein für alle Mal eine Glatze schneiden. Eine endgültige Lösung gibt es nicht."

Buenos Aires. Ein heißer Sommertag. Ein Mann betritt einen menschenleeren Friseursalon, und während er sich zurücklehnt und der sanfte Druck des warmen Wasserstrahls ihn zu berauschen beginnt, schläft er ein.

Er landet gedanklich in den 1970er-Jahren, den Jahren der aufkommenden Afro-Mähne und der blonden Kräuselhaare der höheren Kinder Argentiniens. Rebellion, zumindest im Bereich der Haarmode, ist überall angesagt. Dass andere Rebellionen, zum Beispiel jene, die gegen die einen gewaltigen Rechtsruck machende Regierung, zur blutigen Niederschlagung und dem Beginn der brutalen Militärdiktatur 1976 geführt haben, ist natürlich in diesem Zusammenhang kein Zufall. Auch wenn Alan Pauls auf ganz subtile Weise nie die Ereignisse erwähnt, ja nicht einmal die Diktatur beim Namen nennt.

Durch die teilweise ins Absurde rutschende Rückschau und eine selbstzweifelnde, in Gedanken verlorene Prosa, die sich zusätzlich vermeintlich in teilweise extrem langen Schachtelsätzen zu verlieren scheint, zeichnet der Autor, immer an der Haarlinie entlang, ein beklemmendes surreales Bild einer grauenhaften Zeit.

Der paraguayische Celso, "affektiert wie ein zweitklassiger Musicalstar" und Boxer, ist der einzige Friseur, der die ständig im Mittelpunkt des Geschehens stehenden Haare des namenlosen Protagonisten zur Zufriedenheit desselben schneiden darf. Nach einer wenig ruhmreichen Episode verliert er seinen Arbeitsplatz und schneidet privat weiter.

Von Che Guevaras Skalp bis hin zum kahlgeschorenen Schädel reichen die assoziationsreichen und haarigen Szenen, die doch fein im Hintergrund das blutige Geschehen erahnen lassen. Die Liebe zum Haar hat den jungen Protagonisten so in Beschlag genommen, dass dieser die um sich herum einstürzende Welt gar nicht oder nur entfernt wahrnehmen kann. Somit wird der Held zum passiven, ja, fast blinden Zeugen, der sich den Vorwurf der Feigheit doch irgendwie gefallen lassen muss.

Im letzten Drittel des Romans taucht dann noch ein nur "Kriegsveteran" genannter Protagonist auf, der sich natürlich auch bei Celso rasieren lässt, Drogen verkauft und durch seine Geschichte neue Perspektiven auf das bisher Erzählte öffnet.

Alles in allem ist Alan Pauls kurzer Roman "Geschichte der Haare" eine spannende und originelle Auseinandersetzung mit einem sehr dunklen Kapitel der argentinischen Geschichte. Ein Buch für nebenbei ist es natürlich nicht. Alan Pauls fordert, nicht unähnlich wie vielleicht Mircea Cărtărescu, der ja auch in seiner Trilogie ebenso ein ganz dunkles Kapitel der Geschichte seines Landes aufarbeitete, aber doch ganz anders, mit seiner ausgezeichnet von Christian Hansen übersetzten Prosa die Aufmerksamkeit und Hingabe des Lesers.

Dem, der diese Aufmerksamkeit und Hingabe bereit zu geben ist, sei dieses Buch eindringlich empfohlen.

(Roland Freisitzer; 07/2012)


Alan Pauls: "Geschichte der Haare"
(Originaltitel "Historia del pelo")
Aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Klett-Cotta, 2012. 223 Seiten.
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Leseprobe:

KEIN Tag vergeht, an dem er nicht an seine

Haare denkt. Stark schneiden oder wenig, ruckzuck abschneiden, wachsen lassen, gar nicht mehr schneiden oder raspelkurz, sich ein für alle Mal eine Glatze schneiden. Eine endgültige Lösung gibt es nicht. Er ist dazu verdammt, sich immer und immer wieder mit der Sache zu befassen. Ein Sklave seiner Haare also, bis er den Löffel abgibt, wer weiß. Und selbst danach noch. Hat er nicht gelesen, dass ...? Wachsen die Haare nicht noch im ...? Oder waren es die Nägel?

Irgendwann im Sommer - es ist vier Uhr nachmittags und kaum jemand auf der Straße - flüchtet er vor der Hitze in einen menschenleeren Friseursalon. Man wäscht ihm die Haare. Er liegt zurückgelehnt mit dem Nacken auf dem Beckenrand. Obwohl es unbequem und für die Halswirbel schmerzhaft ist und ihm die Sorglosigkeit etwas zu denken gibt, mit der sich seine Kehle dem Hieb jedes zufällig vorbeikommenden Halsabschneiders förmlich aufzudrängen scheint, gelingt es den massierenden Fingern, der von seinem Kopf aufsteigenden Wolke süßlichen Pflanzendufts und dem Druck des warmen Wasserstrahls, ihn zu berauschen und nach und nach in eine Art Dämmerzustand zu versetzen. Nicht lange, und er schläft ein. Das Erste, was er sieht, als er die Augen aufschlägt, so dicht vor sich, dass er es verschwommen sieht, wie auf Treibsand gemalt, ist das Gesicht des Mädchens, das ihm den Kopf wäscht, über ihn gebeugt, verkehrt her um, ihre Stirn auf Höhe seines Mundes. Was tut sie? Beschnuppert sie ihn? Will sie ihn küssen? Er verhält sich still, beobachtet sie aus blinden Augen, bis das Mädchen nach einigen Sekunden der Konzentration, in denen sie sich sogar das Atmen verkneift, mit einem langen, spitzen Fingernagel ein irregeleitetes Shampoorinnsal stoppt, das ihm ins Auge zu laufen drohte. Gerade aufgewacht, kann er sich nicht erinnern, so sehr er sich bemüht, wie dieses Gesicht vor zehn Minuten ausgesehen hat, als er den Friseursalon betrat und seiner zum ersten Mal ansichtig wurde, während sie bestimmt mit der Frage auf ihn zukam: "Auch waschen?" Jetzt ist es so nah, dass er nicht imstande wäre, es zu beschreiben. Er könnte sich in sie verlieben. Eigentlich weiß er nicht, ob er sich nicht schon verliebt hat, als er die Augen aufschlägt und ihr Gesicht dicht vor sich sieht, riesig, ein wenig so, wie er es aus dem Kino kennt, wenn er für Sekunden einschläft und beim Aufwachen dem stets unfehlbaren Zauber des ersten Bildes verfällt, das er auf der Leinwand sieht.

Ganz gleich, ob das, was da auftaucht, eine Landschaft ist, ein von Efeu überwucherter Mauerrest, eine von Menschen wimmelnde Hauptverkehrsstraße, eine Viehherde, das berühmte Fabriktor der Brüder Lumière - das erste Bild ist immer ein Gesicht. Das Gesicht ist das Phänomen schlechthin, das einzige Objekt der Verehrung, gegen das kein Kraut gewachsen und keine Verteidigung möglich ist. Das ist etwas, das er früh lernt, beim Übersetzen von Shakespeare, als ihn ein Stadttheater mit der Übertragung des Sommernachtstraums in modernes Spanisch beauftragt. Er übersetzt den Text in Rekordzeit, wie in Trance, so wie er damals alles übersetzt, was ihm unterkommt: Bedienungsanleitungen für Haushaltsgeräte, Filmdialoge, Kant, befreiungstheologische Schriften, Lacansche Psychoanalyse, Aufträge, die er, kaum angenommen, durch die "Maschine" jagt, wie er damals zum Übersetzen sagt, und anschließend in einer Art rauschhaften Verdauungstaumels ausscheidet. Aber nachdem er seine Arbeit abgeliefert hat und die Kommentare des mit der Inszenierung betrauten Regisseurs zu hören bekommt, eines zwergenhaften ehemaligen Akrobaten, der Zigarette mit Spitze raucht und den Rauch zur Seite ausstößt, durch das Ausfalltor eines flüchtigen Backenzahns, geht die ganze kostbare Zeit, die er mit seiner Methode des Aus-der-Hüfte-Übersetzens gewonnen hat, zum Teufel, gnadenlos zum Teufel, als man ihn nach Hause schickt mit seiner fünfundachtzigseitigen Fassung und der Aufforderung, oder richtiger: dem Befehl, die Proben beginnen immerhin schon in einer Woche, ihr einen etwas jugendlicheren Ton einzuimpfen - ausgerechnet er, der noch keine dreiundzwanzig ist und bereits wie vierzig wirkt -, seitenweise hochtrabende Verse zu streichen, den Text mit den immergleichen trostlosen Lockstoffen aus Witzchen, Gegenwartsbezügen mit Lokalkolorit und lächerlichen Schüttelreimen zu verbrämen - die einzige Chance, wie ihm der Regisseur beschämt gesteht, den Gymnasiastenhorden einen Shakespeare zu verkaufen, die, ihrerseits gezwungen, ihn für die Schule anzuschaffen, und die wichtigsten, wenn nicht die einzigen Kunden solcher Stadttheaterinitiativen, schon bald ihre Lachsalven und Rülpser in den moribunden Theatersälen vom Stapel lassen, die von ihren Reservierungen leben.

Das Theater! Immerhin rettet er, der eher schamhaft und wenig gesellig ist, von dieser Erfahrung vor allem die Art, wie es ihn dazu bringt, sich der Welt zu öffnen, sowie das - für ihn vollkommen unerhörte - Bedürfnis, seine Arbeit der Meinung, den Vorstellungen und dem Geschmack anderer Leute zu unterwerfen und gegebenenfalls zu korrigieren, wenn seine Übersetzung, so perfekt sie, frisch aus der Maschine, auf dem Papier wirkt, im Mund der Schauspieler aber, wie ihm die Proben wiederholt vor Ohren führen, zu wünschen übrig lässt oder sich schlechterdings als unsprechbar erweist. An einsames Arbeiten gewöhnt und daran, sein eigener Chef zu sein, ohne Teilhaber an seiner Seite, fällt es ihm schwer, dieser besonderen, zugleich bedingungslosen und launischen Gemeinschaft zu vertrauen, auf die sich das Theater so viel zugutehält, eine, die bei der offiziellen Vorstellung des Ensembles mit großem Trara ihren Ausgang nimmt, die mit der sogenannten Textarbeit, den Bühnenproben, den Kostümproben, den Rivalitäten, dem wahllosen Flirten zur Blüte gelangt, sich mit den in unendlicher Warterei vertanen Stunden, mit Verspätungen, Weinkrämpfen in den Garderoben, Geselligkeit in den Cafés im Umfeld des Theaters konsolidiert und ihren absoluten Höhepunkt bei der Premiere erlebt, so wie sie sich mit den ersten Aufführungen ebenso rasch wieder verliert, als wäre das ganze fein gesponnene soziale Gefüge nur dazu da gewesen, die extremen Strapazen der Premiere zu ertragen, um sich schließlich wenige Wochen später in Luft aufzulösen, wenn das Stück vom Spielplan verschwindet und dieselben Leute, die noch einen Monat zuvor für jedes Ensemblemitglied ihr Leben gegeben hätten, jetzt in alle Richtungen auseinanderlaufen, allgemeiner trauriger und lautloser Exodus auf der Suche nach neuen Arbeitsverträgen. Immerhin wird er - auf seine Weise, logisch, man muss ja nicht gleich nach den Sternen greifen - zu einem begeisterten Anhänger dieser instabilen Bruderschaft, so wie man sich auf eine medizinische Behandlung einlässt, deren Erfolg in direktem Verhältnis zu den Opfern steht, die sie einem abverlangt. Auch dann noch, als er sich Widrigkeiten ausgesetzt sieht, auf die er nicht im Mindesten vorbereitet ist: Wenn er zum Beispiel seine krankhafte Schüchternheit überwindet und mit einer Schauspielerin plaudert, die er zum ersten Mal im Leben sieht, die ihm gefällt (obwohl Monate vergehen können, bevor er sich das eingesteht), und die ihn, während sie verschämt am Glitzersaum der Kostümflügelchen knabbert, die man ihr verpasst hat, plötzlich und ohne Vorwarnung fragt, ob es schon vorgekommen sei, dass ihm eine Fee aus den Athener Wäldern angeboten habe, ihm in der Toilette einer Theatergarderobe einen zu blasen; oder der Vorfall eines Nachmittags, den er nie vergessen wird und der ihn noch Wochen später erröten lässt, wo immer ihn die Erinnerung daran einholt: dass er in Anwesenheit des gesamten Ensembles den weiten Richtplatz des Probenraums überqueren muss, in seiner Cordhose, seinem Streifenhemd, seinem Wollpollunder und seiner Empfindlichkeit, Ausdruck einer Schüchternheit, eines Verhaftetseins in Konvention und einer "Verklemmtheit" - wie er später, als er treppab läuft, jemand leise sagen hört -, worüber nachzudenken ihm nie in den Sinn käme, so sehr sind sie Teil seines Wesens, hätten die spöttischen Mienen, mit denen die Schauspieler ihn betrachten - sie, deren Leben davon abhängt, dass jemand sie anschaut -, und sein eigenes hilflos unsicheres Konterfei in einem Spiegel, der sich über die gesamte Längsseite des Raums erstreckt, sie ihm nicht unter die Nase gerieben. (...)

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