Lucas Zeise: "Euroland wird abgebrannt"

Profiteure / Opfer / Alternativen


Im Narrenzug ins "Disneyland" ...

Da kann man schon schockiert sein: Du sitzt im Schnellzug, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Dir wurde zwar ein tolles einheitliches Europa vorgegaukelt, in dem Du überall in derselben Währung zahlen kannst, aber der Zug verlangsamt seine Fahrt, hält nicht mehr an jeder Station, gerät schließlich ins Stocken, und jeder muss aussteigen und Brennholz (sprich erhöhte Steuern) für eine schwerfällige Weiterfahrt sammeln. Schöne Aussichten. Und kaum Einer macht sich über den Preis Gedanken, der für diese Fahrt ins "Glück" zu zahlen sein wird?

Die bisher zurückgelegte fehlerhafte Strecke und die "Zukunftsaussichten" dieser Narrenfahrt beschreibt Lucas Zeise in seinem Sachbuch "Euroland wird abgebrannt". Der Autor, Finanzjournalist mit einem Studium der Volkswirtschaft und Philosophie, führt den Leser in acht Abschnitten anschaulich und in einer sauberen Diktion vor Augen, wie die EU im Jahr 1992 aus der Taufe gehoben wurde, welche Vorteile der einheitliche Binnenmarkt gehabt hätte, und welchen unsinnigen und katastrophalen Zielen der Eurozug wegen seiner fehlerhaften Konstruktion entgegenfährt. Ohne extra auf den großen russischen Klassiker hinzuweisen, der in seinem Aufsatz "Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa" davor warnte, dass "die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär" seien, entwirrt Zeise das Knäuel des Warum und Wofür dieser Zusammenballung des europäischen Kapitals.

Dies in diesem Beitrag einfach so stehen lassend, räumt der Autor gewisse Vorteile des einheitlichen Binnenmarktes ein. Die Pluspunkte wären zum Beispiel: Ein großer Währungsraum ermögliche es den beteiligten Volkswirtschaften, "sich weitgehend den irrationalen Bewegungen der Finanzmärkte, speziell des Devisenmarktes entziehen" zu können. Weiter: "Die Kapitalisten und ihr Staat können sich einfacher und billiger selbst finanzieren." So sei die Finanzierung von Unternehmen und Staat weniger abhängig von den Launen der Finanzmärkte. Ein großer Währungsraum könne sich notfalls auch vom internationalen Kapitalmarkt abkoppeln. Nicht zu vergessen: Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich zum ersten Mal "die Chance, mit den USA hinsichtlich der Vorteile einer Anlage- und Leitwährung gleichzuziehen" (S. 61).

Nicht ohne Ironie widmet sich Zeise auch den "Vorteilen" von Spekulationen. So schreibt er: "In spekulativen Hochphasen wird also die Tendenz des neoliberalen Wirtschaftsmodells zu Stagnation und Unterkonsumtion überspielt. Die Spekulation suggeriert steigende Gewinne in der Zukunft. Die Investitionen steigen. Sie schaffen zusätzliche Nachfrage und fördern damit den Aufschwung. Der bei steigenden Vermögenspreisen explodierende Reichtum in den Händen der an der Spekulation Beteiligten färbt außerdem auf die übrige Gesellschaft ab. Die immer reicher werdenden Spekulanten fragen mehr Luxusgüter nach, sie bauen sich Häuser und Paläste und richten sie ein. Die zahlungskräftige Nachfrage nach Porsches, nach Immobilien, nach Reisen in der Business- oder der ersten Klasse steigt. Auch dadurch wird die Realwirtschaft angeregt. Wenn die Spekulationsblase geplatzt ist, schrumpft umgekehrt diese Nachfrage drastisch" (S. 27).

Doch zum Kern des Schlamassels: Bereits einleitend stellt Zeise fest, man müsse die Krise der europäischen Währungsunion als Bestandteil der den ganzen Globus umfassenden aktuellen Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise begreifen (S. 8). Auf den Seiten 16/17 legt er vor allem die Finger auf die unüberwindbaren Wunden, auf das neoliberale kapitalistische Wirtschaftsmodell: Es gehe radikaler und direkter um die Erhöhung der Kapitalrendite. Folglich: Druck auf die Gewerkschaften, auf die Löhne, denn mit allen Mitteln muss die Mehrwertrate gesteigert werden. Kapitalverkehr über alles. Dazu werden auch die nationalen Schutzschranken für den Warenhandel und den Kapitalverkehr systematisch abgebaut. So werden stärkere Kapitale bevorzugt und die Monopolisierung vorangetrieben. "Um die Kosten für das Kapital niedrig zu halten, wird der Staat kurz gehalten und geplündert. Die Privatisierung von Staatsvermögen, die Vernachlässigung der Infrastruktur, von Bildung und Erziehung und Gesundheit der breiten Bevölkerung gehören zum Kern des neoliberalen Credos."

Dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen krankt, sei allgemein bekannt, aber das helfe nicht weiter, so der Autor (S. 44). In polemischer Auseinandersetzung mit der Auffassung, das Finanzkapital spiele keine eigenständige Rolle, weist der Autor nach, dass die Banken und das Finanzkapital durchaus fähig sind, "Geld aus dem Nichts zu schaffen" (S. 48).

Warum ist die auf einer Konferenz am 7. Februar 1992 im niederländischen Maastricht beschlossene europäische Währungsunion eine verfehlte Konstruktion, wie Lucas Zeise analysiert (S. 57)? Wichtig dabei ist die Feststellung des Autors, dass die Europäische Währungsunion "nicht nur den politischen Interessen der deutschen Regierung entsprach, sondern vor allem den wirtschaftlichen Interessen der deutschen Unternehmen" (S. 60). Deshalb dürfen sogenannte heilige Kühe einfach nicht geschlachtet werden. Dazu gehört, so der Autor, nicht nur schlechthin das Privateigentum, sondern auch der Wettbewerb (Konkurrenzkampf) untereinander, also auch zwischen den Ländern der Europäischen Union. Von Vorteil für alle (S. 64) wäre eine gewisse Spezialisierung gewesen. Allerdings wurden die Standortvorteile, die ja "höchst ungleich verteilt waren", "durch die Fehlkonstruktion des Euro und die Wirtschaftspolitik der Kernländer sogar noch verstärkt". Das Entscheidende dabei: Statt mit Transferleistungen für den Fluss von Überschuss- zu den Defizitregionen zu sorgen, fehlen staatliche Institutionen. Seite 69: "An die Stelle von staatlicher Regulierung tritt dabei der 'Wettbewerb'. Und um die Konkurrenz zu befördern, gilt als oberstes und nachgerade heiliges Prinzip die Freiheit des Kapitalverkehrs."

Welche Lösungswege bietet der Autor an? Will man die Währungsunion erhalten, so Zeise, sollten die grundsätzlichen Mängel der Euro-Konstruktion beseitigt werden. Sie könne nur durch "einen höheren Grad der staatlichen Integration (...) überleben" (S. 130).  Dazu müsse jedoch "das Prinzip des Wettbewerbs der Staaten (um die Gunst des Kapitals)" aufgegeben und "durch staatliche Institutionen" ersetzt werden. Er plädiert für eine Angleichung der Steuersysteme, der sozialen Systeme und für den Aufbau einer zentralen EU-Regierung (S. 130). Auch müsste die "neoliberale Umverteilung von unten nach oben gestoppt und umgekehrt werden; zweitens muss der Finanzsektor massiv geschrumpft und damit die Macht des Finanzkapitals beschnitten werden" (S. 132).

Auf den Punkt gebracht: "Der Euro scheitert nicht deshalb, (...) weil die an der Währungsunion beteiligten Länder kulturell und ökonomisch so unterschiedlich sind. Er scheitert vielmehr daran, dass er ein Produkt des Neoliberalismus ist" (S. 142). Fakt ist: "Das Scheitern des Euro-Projektes bedeutet eine schwere Niederlage des europäischen und deutschen Kapitals" (S. 141).

Was steht schon jetzt fest? Die im Zug Sitzenden werden zum Narren gehalten. Sie werden das angestrebte Ziel nicht erreichen. Rechnen müssen sie mit Gehälterkürzungen, Entlassungen, reduzierten Renten, Sozialleistungen und Ausgaben für Forschung und Bildung, mit weniger Investitionen in Straßenbau, Eisenbahn, Wasser- und Stromversorgung. So verschärft auch der Fiskalpakt die Krise, schreibt Lucas Zeise (S. 126). Trotzdem meinen 73 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage (siehe "nd" vom 29.09.2012): Uns geht es ja gut. Man hat ja seine einheitliche Währung, man hat ja in Deutschland sein Auskommen, nicht wahr?

Mag manch Einer sagen, das alles sei Schnee von gestern. Man lasse uns in Ruhe, sollen die da oben nur ihr Zeug machen. Außerdem: Die dem Euroland kritisch gegenüberstehenden Schriften nehmen zu, häufen sich. Der große Vorzug Zeises ist es, in sachlicher und gründlicher Weise die eigentlichen Ursachen des gewollten Eurolandes als rein kapitalistisches Streben nach Maximalprofit in den Vordergrund gerückt zu haben. Im Klartext: Euroland kann nicht funktionieren, da die inneren Widersprüche des Kapitalismus eine einvernehmliche Zusammenarbeit zwischen den sehr unterschiedlichen Ländern im europäischen Raum nur auf der Wettbewerbsebene einfach nicht zulassen.

Es ist ein nach Einschätzung des Rezensenten sehr gut und verständlich verfasster Text, besonders dann, wenn er, wie auf Seite 62, die konkrete Situation eines Vorstandschefs als Beispiel anführt. Auch die grau unterlegten Begriffserklärungen wie über "Rating"-Agenturen und "Eurobonds" dienen dem leichteren Verständnis.

Der Narrenzug schaukelt weiter ins Land, in ein Land der Märchen und Illusionen. Die Zuginsassen fühlen sich genarrt, und die da oben halten fest an ihren nebelhaften Illusionen, einer von Fehlkonstruktionen und Pleiten bestückten Strategie. Wir leben in einer Gesellschaft der Blendungen und Verblendungen. "Disneyland" lässt grüßen. Der Preis, der für die Fehlplanungen zu bezahlen sein wird, ist schon jetzt nicht mehr kalkulierbar. Und die deutsche Bundeskanzlerin ruft, an die Adresse der Jugendlichen gerichtet: "Das Europa der Zukunft liegt in euren Händen!" (siehe "Märkischer Sonntag", 23.09.2012).

Na dann, weiter eine gute Fahrt ins Glück!

(Harry Popow; 10/2012)


Lucas Zeise: "Euroland wird abgebrannt. Profiteure / Opfer / Alternativen"
PapyRossa, 2012. 142 Seiten.
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