Tristram Hunt: "Friedrich Engels"
Der Mann, der den Marxismus erfand
Dr.
Jekyll und Mr. Hyde
Denkwürdiges geht zurzeit vor. Während die Werke
Marx' und Engels' im Westen jahrelang in den Giftschränken
weggeschlossen waren, erlebt Karl
Marx derzeit eine Art Renaissance.
Nach den Krisen der vergangenen Jahre wird die Systemfrage von Menschen
gestellt, bei denen es vor einer Dekade undenkbar gewesen
wäre. Man trennt Marx von seinen selbsternannten politischen
Erben des 20. Jahrhunderts, man blendet die Revolutionsrhetorik aus, um
den Blick freizugeben auf den Wirtschaftsanalytiker und -theoretiker.
Darüber hinaus stellt sich für den interessierten
Laien die Frage, ob man Marx und Engels so einfach voneinander trennen
kann. War Engels nur der Financier und Marx das Genie? Und wie kann man
eine Revolutionsfibel schreiben und als Unternehmer gleichzeitig Teil
des Systems sein, das die Revolution bekämpft? Bei aller
thematischen Aktualität bildeten Marx und Engels auch ein
wesentliches Epizentrum des politischen 19. Jahrhunderts.
Gründe genug, einer neu erschienen Biografie Friedrich Engels
Aufmerksamkeit zu schenken. Dank der vorliegenden Biografie Engels'
muss das interessierte Publikum auch nicht auf die zu erwartenden
Publikationen anlässlich Marx' Jubiläum 2018 warten
und kann sich derweil schon einmal ein Bild von einem der beiden
Protagonisten machen, ohne den der andere, Marx, sicherlich nicht der
geworden wäre, den wir heute kennen oder erahnen.
Tristram Hunt, laut Klappentext der Senkrechtstarter der britischen
Historikerzunft, legte im Mai 2009 eine beeindruckende Biografie
Friedrich Engels' vor, die nun bei Propyläen in deutscher
Übersetzung erhältlich ist.
Auch wenn die Bedeutung eines Menschen heutzutage in erster Linie in
seinem Werk zu suchen ist, so bildet eine gute Biografie oft erst das
Fundament, auf dem das Werk zur Geltung kommen kann. Werk und Mensch
voneinander zu trennen, funktioniert in der Regel nicht, selbst wenn
der biografische Zugang wie bei Engels über den steinigen
Umweg von einigen kaum aufzulösenden Widersprüchen
zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Fordern und eigenem Handeln
führt. Es ist nicht so sehr die Herkunft aus einer Barmener
Industriellenfamilie mit familiär-finanzieller Verbindung nach
Manchester, die in Widerspruch zu seiner Rolle als Sozialreformer
steht. Auch nicht der Umstand, dass er als Unternehmer in Manchester
die wissenschaftliche Arbeit Marx' finanzierte und somit die
politischen, ökonomischen und sozialtheoretischen
Ansätze ermöglichte, die seinen Unternehmerstand zum
Teufel wünschte.
Friedrich Engels wurde 1820 im pietistischen Barmen geboren, wo bereits
Goethe
als Gottloser galt. Doch er hatte das Glück im
Elberfelder Gymnasium auf den Deutsch- und Geschichtslehrer Johann
Christoph Clausen zu stoßen, "der einzige, der den
Sinn für Poesie in den Schulen zu wecken weiß, den
Sinn, der sonst elendiglich verkümmern müsste unter
den Philistern des Wuppertales", wie Engels in einem Brief
schrieb. Doch der erfolgversprechenden Gelehrtenlaufbahn schob der
Vater einen Riegel vor und nahm ihn von der Schule, als der Sohn unter
Clausens Anleitung sich allzu weit vom pietistischen Weg entfernte.
Hier liegen, wie man sich denken kann, schon erste Grundsteine
für eine brüchige Biografie. Es folgte eine
kaufmännische Ausbildung in bester Familientradition, aus der
er jedoch seine journalistischen Ausbrüche wagte, die ihn auch
mit Marx zusammenbrachten. Seit 1842 schrieb er gelegentlich
für die "Rheinische Zeitung", deren Chefredakteur Marx war.
Marx und Engels konnten auf eine Reihe neuer
frühsozialistischer Gedanken zurückgreifen, die auf
Charles Fourier, Claude-Henri de Saint-Simon, Robert Owen und Moses
Hess zurückgingen. Es hieß, die Franzosen
hätten den Kommunismus politisch formuliert, die Deutschen
philosophisch, und es sei (wegen der katastrophalen Zustände
in den Industriezentren) an den Engländern, ihn in die Praxis
umzusetzen.
1842 reiste Engels nach Manchester, wo gerade ein Generalstreik ablief.
Engels war zwar theoretisch bereits darauf eingestimmt, dass die Lage
der Arbeiterschaft nicht akzeptabel sei, aber mit dem, was er in
Manchester zu Gesicht bekam, hatte er nicht gerechnet. Er nutzte die
Zeit zwischen 1842 und 1844, um die Verhältnisse vor Ort
gründlich zu analysieren und sich auch mit der englischen
Literatur vertraut zu machen. Nach seiner Rückkehr nach Barmen
entstand die Schrift "Die Lage der arbeitenden Klasse in England", die
heute als Standardwerk der Industrie- und Stadtsoziologie gilt, wie
Hunt schreibt. Engels fiel auch ins Auge, dass die Stadt, in der
Bourgeoisie und Arbeiterklasse wohnten, so angelegt war, dass die
gehobenen Schichten sich in ihren Hauptstraßen so bewegen
konnten, dass sie mit den teils menschenunwürdigen
Arbeitervierteln gar nicht in Berührung kamen. Dieses Prinzip
"Haussmann" wurde auch in Paris Wirklichkeit.
Nach dem Ende der "Rheinischen Zeitung" ging Marx 1843 nach Paris und
definierte sich selbst als Kommunisten. Engels besuchte Marx im Sommer
1844 in Paris und stellte "vollständige
Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten"
fest. Engels respektierte in Marx die größeren
intellektuellen Fähigkeiten ("Marx stand
höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als
wir andern alle.") und spielte bereitwillig und 40 Jahre lang
die zweite Geige. Doch er bildete auch die Schattenseiten echter
zweiter Geigen aus, indem er wie ein "Großinquisitor" alle
Ideen und Figuren bekämpfte, die von der Linie seiner ersten
Geige Karl Marx abwichen und diesen eventuell gefährdeten.
In ihrer gemeinsamen Schrift "Die heilige Familie, oder Kritik der
kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten", in der sie
sich von den Junghegelianern um Bruno Bauer abgrenzten, formulierten
sie "Die Geschichte tut nichts [...], sie kämpft
keine Kämpfe." Es war an dem Menschen, das zu tun,
wie Marx das in dem legendären Satz formulierte: "Die
Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es
kömmt darauf an, sie zu verändern".
Der große Engelssche Widerspruch wird deutlich, wenn man das
auf das Individuum bezogene Ziel herauspräparieren
möchte, das dem Marx-Engelsschen-Opus zugrunde liegt. Die
Essenz deren Wirkens ist nicht ein Ziel, sondern eine Methode! Deutlich
und höchst verwirrend tritt das beispielsweise zutage, als
Anfang der 1850er-Jahre der beginnende Wohlstand Manchesters der
proletarischen Revolutionsbewegung die Kraft raubte. "Das
radikale Manchester war derart harmlos geworden, dass die Stadt im
Oktober 1851 für einen Besuch der Queen bereit war. Der Einzug
von Victoria und Albert über die Victoria Bridge durch Arkaden
aus italienisierenden Bögen wurde zu einem Festzug zu Ehren
von bürgerlichem Stolz und städtischem
Selbstbewusstsein", schreibt Hunt. Engels passte das
überhaupt nicht, denn das Proletariat verbürgerlichte
immer mehr. Das zeigt auch deutlich, dass es ihm nicht darum ging, die
gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern, sondern seine
Revolution ins Werk zu setzen. Das proletarische Elend war insofern
durchaus begrüßenswert, weil es seiner und Marx'
Weltanschauung Aufwind gab. Die Baumwollindustrie Manchester lebte vom
Import billiger Rohstoffe und vom Export fertiger Produkte in die
Kolonien. Hunt schreibt: "Es war zu erwarten, dass er dem
fehlgeleiteten britischen Proletariat vorwarf, seinen Teil vom
kolonialen Mammon einzustecken, seine eigene Position im Komplex des
Imperialismus aber nie in Frage stellte."
Dieser Zeit voraus gingen Dekaden großen Elends der
Arbeiterschaft in den industriellen Zentren des Kontinents. Der
schlesische Weberaufstand, die revolutionären
Flächenbrände zwischen Dänemark und Sizilien
1848 und 1849 waren Folgen dieser unhaltbaren Zustände. Eine
ganze Reihe sozialreformerischer Bewegungen entstand in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, frühsozialistische
Zirkel in England, Deutschland und Frankreich, Anarchisten und
Revolutionstheoretiker mit wechselnden Bündnissen und
Kämpfen, wobei die Deutschen ihren Hegel
im Anschlag hatten,
egal was sie am Ende vertraten. Engels selbst war 1841
Gasthörer in philosophischen Seminaren der
Universität Berlin gewesen, wo Hegel gelehrt hatte.
Hegels System der fortschreitenden Vernunft in der Geschichte gab den
Hegelianern den Hebel in die Hand, mit dem sie die Welt aus den Angeln
heben konnten: "Dann aber grade lag die wahre Bedeutung und
der revolutionäre Charakter der Hegelschen Philosophie,
daß sie der Endgültigkeit aller Ergebnisse des
menschlichen Denkens und Handelns ein für allemal den Garaus
machte. ... [A]lle nacheinander folgenden geschichtlichen
Zustände [sind] nur vergängliche Stufen im endlosen
Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft vom Niedern zum
Höhern. ... Vor [der Dialektik] besteht nichts
Endgültiges, Absolutes, Heiliges." So schrieb es
Engels in seiner 1886 publizierten und 1888 mit einem Vorwort
versehenen Schrift "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen
deutschen Philosophie". Das sich Hegel mit seiner Dialektik selbst
relativiert hatte, dürfte ihm auch nicht so klar gewesen sein.
Jedenfalls fielen Hegels Jünger mit dieser dialektischen
Abrissbirne über alle politischen Gewissheiten her.
Das ist auch eine der wirklich starken Stellen des Buches, wenn Hunt
eine beeindruckende Analyse der posthegelianischen Strömungen
im Berlin der 1940er-Jahre vor dem Leser ausbreitet. Profund und
trotzdem lesbar, was sicherlich auch dem Übersetzer
Klaus-Dieter Schmidt zu danken ist, der auch eine vorbildliche
Übersetzung aller, wirklich aller, fremdsprachigen Textstellen
präsentiert. Dieses Lob wird er sich mit dem Lektor teilen
müssen.
Zu dem Hauptwerk "Das Kapital", dessen erster Band 1867 erschienen war,
schreibt Hunt: "Engels' Beitrag zu Marx' Hauptwerk ging weit
über das Monetäre hinaus. Viele der Kerneinsichten
des Buches in die Funktionsweise von Arbeit und Kapital [...] und auch
die philosophischen Grundlagen stammen von ihm." Auch die
Lektoratslast lag im Wesentlichen bei Engels. "Das Ergebnis
war ein Triumph: der Grundtext des wissenschaftlichen Sozialismus' und
ein Klassiker des westlichen politischen Denkens."
Man muss nicht die komplette 26-bändige Werkausgabe bei Dietz
erstehen, doch einige der Texte sind echte Klassiker auch heute noch
des Lesens wert, so unter Anderem das "Manifest der kommunistischen
Partei", dem Marx-Engelsschen Glaubensbekenntnis. Ersetzt man darin
Bourgeoisie durch Industrie und Proletariat durch Arbeitnehmer, so
klingt dieser Text nachgerade modern. Der Feuerbach-Text wurde bereits
genannt, und "Das Kapital" muss man, wie eingangs erwähnt,
heute auch nicht mehr verstecken.
Hätten Marx und Engels die Würde des Menschen und
unverhandelbare Menschenrechte als ausdrückliches Ziel erkoren
und nicht den Sturz der Bourgeoisie, wären die Pervertierungen
des 20. Jahrhundert in ihrem Namen wohl kaum möglich gewesen.
Wären die Menschenrechte das Ziel gewesen, dann wäre
die Entmachtung der Bourgeoisie während der Revolutionsjahre
durchaus als Mittel akzeptabel gewesen. Liegt darin womöglich
der Kardinalfehler des Kommunismus? Ein weiterer wunder Punkt ist
sicherlich in Teilen des dialektischen Materialismus zu vermuten, dem
Versuch, aus einer klugen ökonomischen Analyse eine
universelle Glaubenslehre zu machen. Im Ergebnis werden
wissenschaftliche Theorien außerhalb des Kanons als bourgeois
deklariert, was Wissenschaft und Wissenschaftler
gleichermaßen zum Gegenstand politischen Wirkens macht. Der
dialektische Materialismus lieferte die Algorithmen für die
pseudo-kommunistischen Systeme des 20. Jahrhunderts.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass den Rezensenten selten
ein Buch so dazu verleitete, sich in Nebenlektüren zu
stürzen, wie dieses. Das macht die Gesamtlektüre im
Rückblick deutlich intensiver. Der Stoff ist aber auch dazu
geeignet, uns noch eine Weile zu beschäftigen. Ein wirklich
tolles Buch! Und das, obwohl einem das Attribut "Senkrechtstarter der
britischen Historikerzunft erst einmal einen tüchtigen
Schrecken einjagte.
(Klaus Prinz; 04/2012)
Tristram
Hunt: "Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand"
(Originaltitel "The Frock-coated Communist: The Revolutionary Life of
Friedrich Engels")
Übersetzt von K.-D. Schmidt.
Propyläen, 2012. 575 Seiten.
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Noch
ein Lektüretipp:
Terry Eagleton: "Warum Marx recht hat"
Mitten in der schwersten Krise des Kapitalismus
bricht der katholische
Marxist Terry Eagleton eine Lanze für Karl Marx. Streitbar,
originell und mit britischem Humor widerlegt er zentrale Argumente
gegen den Marxismus, wie z.B. "Wir leben doch längst in einer
klassenlosen Gesellschaft", "Der Marxismus erfordert einen despotischen
Staat" oder "Der Marxismus ignoriert die selbstsüchtige Natur
des Menschen". Eagleton macht klar: Marx' materialistische Philosophie
hat ihren Ursprung im Streben nach Freiheit,
Bürgerrechten und
Wohlstand. Sie zielt auf eine demokratische Ordnung und nicht auf deren
Abschaffung. (Ullstein)
Buch
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